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02-2013

Andreas Zingg Emmanuel Lévinas’ maternité-Konzeption und ihre biblischen Grundlagen

Abstract:

The biblical topic of God’s womb – the article analyses it on the basis of Isaiah 46:3f. and Hosea 11 – and the radical nature of Emanuel Lévinas’ «maternité» conception put the bias of male and manageable notions of God into question. It proposes on one side the full ability of female metaphors for notions of God and on the other side that the whole richness of biblical metaphors has to be considered. The consequences of this wide and open view are a non-uniform notion of God, characterised by disharmony, non-conformance and self-opposition. Furthermore, if Lévinas’ «maternité» conception is adapted to the discourse about God, humans position before God is put into another complexion: God has radically and inescapably to bear responsibility for humans. God’s «maternité» stands for his unalienable responsibility.
Possible follow-up questions to Lévinas’ radical not gender-related and non-biological «maternité» conception are: Would God not depend on humans in a radical way? Can God at all be imagined without his human counterpart? And in an eschatological perspective: Can God sometime disengage oneself from his suffering from humans?

1. Die „Mutterschößigkeit Gottes“ in der Bibel

Die biblische Rede von einer „Mutterschößigkeit Gottes“[1] entfaltet sich im Alten Testament um den Ausdruck רֶחֶם, welcher mit „Mutterschoß“, „Mutterleib“ oder „Gebärmutter“ zu übersetzen ist und in enger Verwandtschaft mit רחמים, das „sich erbarmen“, „Mitgefühl“ oder „Mitleid“ bedeutet, steht. Darauf, daß der Mutterschoß gleichnisfähig für Gott ist, weist z.B. Jesaja 46,3f hin:

„Hört auf mich, Haus Jakob, und der ganze Überrest des Hauses Israel, die Aufgeladenen vom Mutterleib an, die Getragenen vom Mutterschoß an.
Und bis ins Alter: Ich bin derselbe. Und bis zum grauen Haar: Ich bin es, der schleppen wird. Ich habe es getan und ich werde tragen, und ich werde schleppen und retten.“

Nicht wenige, interessanterweise auch neuere, Kommentare und Übersetzungen dieses Textes sprechen ihm die Möglichkeit ab, metaphorisch von Gott als Mutter zu sprechen. So übersetzt z.B. die Einheitsübersetzung von 1980: „[…], die mir aufgebürdet sind vom Mutterleib an, die von mir getragen wurden, seit sie den Schoß ihrer Mutter verließen.“ (V. 3b) Der Kommentar in der Echter Bibel aus dem Jahr 2001 von Burkard M. Zapff erwähnt die Mütterlichkeitsmetaphern mit keinem Wort, sondern beschränkt sich auf die Interpretation Gottes als „Lasttier“, das sein Volk von Anfang an trägt.[2] Georg Fohrer übersetzt V. 3b in seinem Kommentar etwas offener: „[…], die ihr vom Mutterleibe an getragen seid, vom Mutterschoß an hochgehoben“. Im Kommentar schreibt Fohrer aber dann, daß die Israeliten von Gott, „der unter dem Bild des Vaters vorgestellt ist“ getragen werden, „wie ein Vater das neugeborene Kind“ auf seinen Arm nimmt.[3]

Im Kontrast dazu können aber Martin Luther und Johannes Calvin die Mütterlichkeitsmetaphern des Jesajatextes ohne Weiteres zum Leuchten bringen. Luther, der in seiner Übersetzung den Mutterleib direkt auf Gott bezieht, obwohl dies im hebräischen Original im Gegensatz zur Vulgata (dort: „portamini a meo utero, […] gestamini a mea vulva“) uneindeutig ist, schreibt in seiner Jesajaauslegung: „Das ist ein überaus liebliches Bild, daß er sagt, sie würden von ihm im Leibe getragen, und er sei die Mutter, die sie trage als ein zartes Kind im Mutterleibe. Zum ersten preist uns daher Gott hiermit seine Gesinnung gegen die Mühseligen an; er sei kein Tyrann, kein Peiniger […], sondern eine Mutter, […]. Zum andern erinnert er uns, was wir sind, und wie wir sein sollten, nämlich ein Kind, das in die Mutter eingeschlossen ist, welches nichts sieht, nichts empfindet, sich um nichts kümmert, sondern alle Sorge fällt der Mutter zu […]. Ferner ist der Mutterleib Gottes das Wort der göttlichen Verheißung, in welchem wir getragen und gebildet werden.“[4] Calvin spricht davon, daß Gott seinem Volk „Vater und Mutter gewesen“ sei, es „gezeugt und geboren“ habe.[5]

Wie schon angedeutet: Der hebräische Text ist alles andere als eindeutig: Wessen Mutterleib ist gemeint? Wer trägt wen? Wer lädt wem was auf? Diese Uneindeutigkeit darf gerade nicht dazu führen, daß in Übersetzung und vor allem Auslegung eine Vereindeutigung im Sinne einer Verengung der Metaphorik stattfindet. Vielmehr müßte gefragt werden, ob dieser Text nicht gerade darin „doppel-deutlich“ (Frettlöh) (ein-)gängige, ein-deutige und allzu deutliche anthropomorphe Gottesbilder infrage stellt. Er provoziert Bildstörungen, die unsere Gottesbilder immer wieder in Frage stellen: Das „ich“, das in V. 4 grammatikalisch eindeutig als männlich identifiziert wird, hat, folgt man der Interpretation der Vulgata, einen Uterus und eine Vulva – beides eindeutig weibliche Geschlechtsmerkmale. „Er hat eine Gebärmutter.“[6]

Diese Doppeldeutlichkeit stellt auch die gerne trinitarisch (Gott ist der Vater des Sohnes) begründete Vaterschaft Gottes in eine andere, eben doppelte Perspektive: Der Sohn ist einerseits der vom Vater Gezeugte, aber auch der aus ihm Geborene; oder mit den Worten des Nicaeno-Constantinopolitanum: «ἐκ τοῦ Πατρὸς γεννηθέντα» (übertragen: „vom Vater geboren/gezeugt/hervorgebracht“). Auch hier wird die Andersheit Gottes doppel-deutlich, weil einerseits männliche und weibliche Metaphern für Gott stehen und andererseits allzu anthropomorphe Gottesbilder von den Texten der Bibel und der Theologiegeschichte infrage gestellt werden. Ferner stellt sich die Frage, inwiefern überhaupt Metaphern wie „uterus patris“ bzw. biblische Mütterlichkeitsmetaphern in ihrer Zeit verstanden und gedeutet wurden. Was heute, aufgrund des vorherrschenden Verständnisses von Geschlechterdifferenz, als Bildbruch wahrgenommen wird, muß in der Antike und der Alten Kirche nicht genau so erschienen sein.[7]

Neben Jesaja 46, 3f ist Hosea 11 ein Text, in dem mütterliche Gottesbilder zur Sprache kommen. Im ganzen Kapitel geht es um die Reaktion Israels auf Gottes Fürsorge um Israel. Dabei benutzt der Prophet keine männlichen Metaphern, sondern ausdrücklich weibliche, mütterliche. „Obwohl er den Begriff ‹Mutter› vermeidet, schildert er das alltägliche Tun und Verhalten einer Mutter, die ein kleines Kind großzieht […].“[8] Höhepunkt des Textes ist V. 9b: כִּ֣י אֵ֤ל אָֽנֹכִי֙ וְלֹא־אִ֔ישׁ („Denn ich bin Gott und nicht ein Mann“). איש bedeutet nicht nur „Mann“, sondern auch „Mensch“. Deshalb erstaunt es nicht, daß die meisten Übersetzungen sagen: „Denn ich bin Gott und nicht ein Mensch.“ Diese geschlechtsneutrale Variante muß sich viel weniger vor dem Gender-Forum verantworten als die geschlechtsspezifische. Es sprechen einige Gründe dafür, daß hier איש explizit „Mann“ meint: Einerseits steht der Ausdruck für „glühender Zorn“, wie er in V. 9a erwähnt wird (dort חֲרֹ֣ון אַפִּ֔י , wörtlich „Glut meiner Nase“ oder an anderen Stellen mit derselben Bedeutung nur אַף „Nase“), im Alten Testament in Verbindung mit Männern, wo er nicht Ausdruck für Gottes Zorn oder den Zorn an sich ist.[9] Andererseits stünde Hosea zum Ausdrücken des allgemein Menschlichen ein anderes Wort zur Verfügung, nämlich אדם, das auch in Hosea 11,4 vorkommt, dort in Konstruktus-Verbindung mit חבל, was mit „Menschenbanden“ oder „menschlichen Seilen“ übersetzt werden kann. Wenn der Text sich in 11,4 mit dem Menschlichen solidarisiert, kann er sich schlecht kurz darauf wieder von diesem vehement distanzieren.[10]

Getreu der Devise einer lectio difficilior sind aber meiner Ansicht nach die vielen verschiedenen Metaphern, durch die der Text lebt, nicht auf ein vereindeutigendes Gottesbild hin zu lesen.[11] Viel eher scheint mir angebracht, den Text nicht geschlechterontologisch (Deuteronomium 4,16 verbietet ja, (sich) ein Bild von Gott zu machen, das männlich oder weiblich ist) zu interpretieren, sondern den Konflikt, der laut Hosea 11 in Gott herrscht, zu fokussieren: „Gott fällt sich selbst ins Wort, setzt sich neu ins Bild.“[12] Gerade der „gender-trouble“[13] verwirrt und erschwert die Interpretation von Hosea 11, führt aber einmal mehr vor Augen, daß mit einer einseitigen Deutung der reichen biblischen Bildwelt nichts gewonnen ist, sondern viel eher der Blick auf die Tiefenschichten dieser Texte verstellt wird. Hier konkret: Gott muß nicht eindeutig „männlich“ oder „weiblich“ handeln, fühlen oder denken, sondern kann sich in seiner Souveränität selber ins Wort fallen. In Gott selber findet ein „Herz-Bruch“[14] statt. Ebach plädiert dafür, in der „Macht über die Macht, dem Eintreten Gottes gegen Gott selbst die Differenz zum Mann zu sehen […], weil zwar die Macht vorwiegend männlich konnotiert ist, aber eben nicht die Macht über die Macht“[15]. Diese Uneindeutigkeit in Gott selbst, die in kein anthropomorphes, geschlechterfixiertes Bild passen will, läßt die Frage aufkommen, inwiefern denn auf einen solchen Gott Verlaß sei. Wie kann ein Gott, der in sich selbst uneins ist, vertrauenswürdig sein?

2. Die maternité-Konzeption von Emmanuel Lévinas

Diese beiden biblischen Mutterbilder sollen nun mit der maternité-Konzeption von Emmanuel Lévinas ins Gespräch gebracht werden. Lévinas denkt radikal vom Andern her und priorisiert in seiner Philosophie die Ethik vor der Ontologie. Das heißt: Bevor es um das Sein, das Subjekt, das Denken geht, steht der Anspruch, den der oder die Andere auf das Subjekt hat, im Vordergrund. Den Begriff der „maternité“ (der im Französischen auch „Schwangerschaft“ bedeutet) führt Lévinas in seinem zweiten Hauptwerk „Autrement qu’être ou au-delà de l’essence“ (Deutsch: „Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht“) ein. Dabei bezieht er die „maternité“ nicht auf ein bestimmtes Geschlecht, sondern definiert ihn als allgemeinen ethischen Begriff. Das, was Lévinas mit „maternité“ meint, geht alle Menschen gleichermaßen an. „Jedoch geht Lévinas von den Phänomenen der Schwangerschaft, des Gebärens und des mütterlichen Körpers aus, um nach ihrer ethischen – und das heißt hier gleichzeitig nach ihrer subjektivitätstheoretischen – Bedeutung zu fragen.“[16] Lévinas selber spricht von „Ausgesetztheit gegenüber dem Andern“[17], von „Obsession durch ein Anderes“[18], von „Infragestellung durch die Anderheit [sic] des Anderen“[19] und davon, daß „Mutterschaft – das Tragen schlechthin – […] auch noch die Verantwortung für das Verfolgen des Verfolgers“[20] trägt.

Bereits diese wenigen Einblicke machen die Radikalität des Ansatzes von Lévinas deutlich. Radikal auch deshalb, weil jeder Mensch in diese „Ausgesetztheit gegenüber dem Andern“ hineingestellt ist und es deshalb kein Entfliehen aus der Abhängigkeit des Andern gibt. So, wie vom Kind ein Anspruch an seine Mutter ausgeht, aus dem sich die Mutter nicht entziehen kann, weil sich das Kind von der Mutter ernährt hat, von ihr getragen wurde. Die Mutter, das Sub-jekt, ist in ihrer bzw. seiner Leiblichkeit unterworfen unter den Anspruch des Fötus bzw. des Andern. So wie eine Mutter leiblich den Ansprüchen ihres Fötus „unterworfen“ ist, ist jeder Mensch der Verantwortung gegenüber dem Andern unterworfen. Aus dieser Verantwortung kann sich niemand entziehen; eingängiger formuliert: Der Andere geht mir unter die Haut, er besetzt mich, wie ein Fötus den Leib seiner Mutter besetzt, ihr unter der Haut ist. Mutterschaft ist „für den Anderen leidender Leib, Leib als Passivität und Entsagung, reines Ertragen“[21].

3. Die Lévinas’sche maternité-Konzeption in Zusammenhang mit der biblischen Rede von der Mutterschößigkeit Gottes

Steht das Lévinas’sche maternité-Konzept, das hier nur angedeutet werden kann, nicht gegen gängige Auffassungen von Mutterschaft? Können die biblischen Texte einer Mutterschößigkeit Gottes nicht andere, vor allem viel weniger radikale Bilder von Mütterlichkeit evozieren? Bilder einer Mutter etwa, die mit ihrem Kind freudig schwanger ist, es – wie man so schön sagt – „in Erwartung hat“, das Kleine auf dem Arm trägt, vor Unheil schützt, an ihrer Brust nährt, ihm später die Muttersprache beibringt; allgemein: es bemuttert? (Bezeichnenderweise gibt es im Deutschen keinen parallelen männlichen, bzw. „väterlichen“ Ausdruck dafür.)

Gerade allzu einseitigen und verklärten Mutterbildern fällt die radikale Lévinas’sche maternité-Konzeption ins Wort. Sie mahnt an, mütterliche Gottesbilder daraufhin zu befragen, ob sie nicht einfach als liebevolle und umsorgende Gegenbilder ausgleichend auf die oft strengen Vaterbilder Gottes herbeigewünscht werden. Die Radikalität und v. a. auch die Brutalität der maternité-Konzeption stellt aber noch grundsätzlicher all zu stereotype, handliche Gottesbilder in Frage, gerade weil sie die „maternité“ geschlechterübergreifend und für alle Menschen als unentrinnbar postuliert: Gott ist für alle Menschen „Mutter“. Individualistisches und selbstbestimmtes Denken einerseits, unverbindliche Gottesrede andererseits sind durch diese Aussage fundamental infrage gestellt, vielleicht sogar angefochten.

Stellt man die Lévinas’sche maternité-Konzeption in Zusammenhang mit biblischer Rede von der Mutterschößigkeit Gottes, so entstehen weitere Bezüge mit ihren Folgefragen: Gott stünde in einer radikalen Abhängigkeit von den Menschen, Gott wäre nicht denkbar ohne das menschliche Gegenüber, ja, Gott erhielte erst durch dieses Gegenüber Bedeutung. Gott ließe sich also durch die Menschen besetzen, in die Mangel und in Verantwortung nehmen; Gott gehen die Menschen „unter die Haut“. Wie wäre dies in Verbindung zu bringen mit Exodus 33,23, wo Mose Adonai gegenüber das Nachsehen hat, bzw. Adonai nur von hinten sehen darf? Liegt es, entgegen der Radikalität Lévinas’, in der freien Entscheidung Gottes, wieweit und von welcher Seite er in den Blick menschlicher Ansprüche geraten will? Kann für Gott, der ohne Anfang und Ende ist, auch gelten, daß er schon immer, an-archisch, in der Verantwortung des Menschen gestanden ist? Besteht nicht gerade in diesem Punkt ein Unterschied zwischen Mensch und Gott, denn wo für die Menschen keine Wahl ist, besteht für Gott die Wahl, die Menschen zu erwählen. Unter eschatologischer Perspektive gefragt: Kann sich Gott je einmal aus diesem Leiden am Menschen befreien? Oder besteht die Verantwortung, die vom Menschen an Gott ausgeht, auch im Eschaton?

Biblische Texte, hier am Beispiel des „Salomonischen Urteils“ in 1. Könige 3,16-28 gezeigt, sind für ein philosophisches Denken radikaler Verantwortlichkeit für den anderen Menschen ein notwendiges Gegenüber. Am Salomonischen Urteil läßt sich beispielsweise zeigen, daß radikale Verantwortlichkeit im Zeichen des Lebens steht (V. 26). Nicht ein ethisches Ideal steht über allem, sondern das Leben an sich, vielleicht kann man sogar sagen, das biologische Leben. Gerade weil die Verantwortlichkeit im Zeichen des Lebens steht, kann sich niemand aus seiner oder ihrer Verantwortung stehlen. In der heutigen Zeit ist aber gerade dieser Aspekt ernsthafte und nötige Mahnung, denn Verantwortung für den Andern wird gerne einem System wie z.B. dem Sozialstaat, der Wirtschaft, den Hilfswerken, der Gesellschaft zugeschoben – wird sie so nicht entmenschlicht?

Radikale Verantwortlichkeit, die im Zeichen des Lebens steht, ist ferner aber – hier in voller Übereinstimmung mit Lévinas – nicht biologistisch zu denken. Die Mutter in 1. Könige 3,16-28, deren Kind lebt, war, um das Leben dieses Kindes zu retten, bereit, es der anderen Mutter anzuvertrauen. Mütterlichkeit geht zum Äußersten, weil sie das Leben nicht nur erhalten will, sondern es sogar der Mutter anvertraut, die bereit wäre, Leben aufzugeben.

Ferner zeigt der Text, daß radikale Verantwortlichkeit angefochten sein kann. Sie ist nicht ein naturgegebener Idealzustand, sondern kann durch Umstände, die niemand will, auf die Probe gestellt werden. Es stellt sich dann die Frage, was geschieht, wenn diese radikale Verantwortlichkeit nicht zu ihrem Recht kommt. Was wäre geschehen, wenn der weise Richter das Kind mit dem Schwert entzweigehackt hätte? Bliebe dann nur die Hoffnung auf eschatologische Wiederherstellung? Was geschieht, wenn Menschen sich dieser Radikalität der Verantwortung für den Andern nicht bewußt sind oder sich dieser Radikalität nicht aussetzen wollen?

Wo bei Lévinas die denkerische Radikalität vielleicht Züge einer Lebensferne tragen mag, schreiben biblische Texte, die in den Geist des Lebens atmen, zahlreiche Anfragen, die eben gerade dieses Leben stellt, in das maternité-Konzept ein. Auf der anderen Seite kann eine denkerische oder konzeptionelle Radikalität biblische Texte in einem anderen, möglicherweise auch neuen Licht erscheinen lassen, als es Zugänge leisten können, die all zu stark auf innerweltliche, lebensnahe Praktikabilität biblischer Textaussagen fokussiert sind. Auch dieser Aspekt scheint mir als Korrektiv gängiger Textauslegung wichtig, da Umsetzbarkeit, sog. Lebensnähe und Anwendbarkeit zentrale Schlagworte sind, an denen Predigt, theologische Ethik, Katechese oder (die) Theologie insgesamt gemessen werden. Sollen aber biblische Texte nicht gerade auch einen Blick für das öffnen, was über unsere Leben hinausweist, was nicht in ein logisches, nachvollziehbares oder anschlussfähiges System paßt?

Die biblische Rede von der Mutterschößigkeit Gottes und die Radikalität der Lévinas’schen maternité-Konzeption stellen einseitig männliche und all zu handliche Gottesbilder in Frage. Sie führen einerseits die Gleichnisfähigkeit weiblicher Metaphern ins Feld und mahnen so unüberhörbar an, daß nicht nur in männlichen Bildern von Gott zu reden, sondern der ganze Reichtum biblischer Metaphern zu berücksichtigen ist, auch Metaphern aus der belebten und unbelebten Schöpfung. Das hat aber zur Folge, daß ein Gottesbild entsteht, das von Bildbrüchen durchzogen, ja, charakterisiert ist. Andererseits rückt die Anwendung des Lévinas’schen maternité-Konzeptes auf die Gottesrede die Stellung des Menschen vor Gott in ein anderes Licht, weil Gott radikal und unentrinnbar Verantwortung für die Menschen tragen muß. Die „maternité“ Gottes steht so für sein unveräußerliches und bis zum Äußersten gehenden Verantwortlichsein.


 

Bibliographie

· Calvin, Johannes: Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift in deutscher Übersetzung, Bd. 7/2, Neukirchen 1914.

· Ebach, Jürgen: «Gott ist kein Mann – aber warum? Hosea 11,9 und Numeri 23,19 im Diskurs», in: Frank Crüsemann und Marlene Crüsemann (Hgg.): Dem Tod nicht glauben. Sozialgeschichte der Bibel (FS für Luise Schottroff), Gütersloh 2004, 214-232.

· Fohrer, Georg: Jesaja 40-66. Deuterojesaja/Tritojesaja (= Zürcher Bibelkommentare), Zürich 21986.

· Frettlöh, Magdalene L.: Gott Gewicht geben. Bausteine einer geschlechtergerechten Gotteslehre, Neukirchen-Vluyn 22009.

· Gürtler, Sabine: Der Begriff der Mutterschaft in «Jenseits des Seins». Zur phänomenologischen Begründung der Sozialität des Subjekts bei Emmanuel Lévinas, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42 (1994), 653-670.

· Lévinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Aus dem Französischen von Thomas Wiemer, Freiburg/München 1992.

· Schroer, Silvia/Thomas Staubli: Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt 22005.

· Schüngel-Straumann Helen: «Gott als Mutter in Hosea 11», Theologische Quartalschrift 166 (1986), 119-134.

· Wacker, Marie-Theres: Father-God, Mother-God – and Beyond. Exegetical Constructions and Deconstructions of Hosea 11, in: lectio difficilior 2 (2012) (eingesehen am 10. September 2013).

· Walch, Joh. Georg (Hg.): Auslegung des Alten Testaments (= Martin Luthers sämtliche Schriften), Bd. 6, Nachdruck der 2. überarb. Auflage, St. Louis 1880-1910.

· Zapff, Burkard M.: Jesaja III 40-55 (= Die neue Echter Bibel: Kommentar zum Alten Testament mit der Einheitsübersetzung), Würzburg 2001.


 

[1] Schroer, Körpersymbolik, 63.
[2] Zapff, Jesaja, 284.
[3] Fohrer, Jesaja, 98f.
[4] Luther, Sämtliche Schriften Bd. 6, 556f.
[5] Calvin, Auslegung, 184.
[6] Frettlöh, Gott, 265.
[7] Vgl. Frettlöh, Gott, 270f.
[8] Schüngel-Straumann, Mutter, 117.
[9] Genesis 30,2 (Jakobs Zorn), Genesis 39,19 (Potifars Zorn), Genesis 44,18 (Josephs Zorn), Genesis 49,6f (Zorn Simeons und Levis), Exodus 11,8; 32,19 (Moses Zorn), Numeri 22,27 (Bileams Zorn), Numeri 24,10 (Balaks Zorn), Richter 14,19 (Simsons Zorn), 1. Samuel 11,6.20.30.34 (Sauls Zorn), 1. Samuel 17,28 (Eliabs Zorn), 2. Samuel 12,5 (Davids Zorn), Hiob 18,4; 40,11 (Hiobs Zorn), 32,2f.5 (Zorn Elihus), 2. Chronik 25,10 (Zorn der Kriegsleute), Psalm 124,3; 138,7 (Zorn der Menschen, der Feinde), Sprüche 15,18; 19,11; 21,14; 22,24; 29,22 (Zorn des Mannes/Menschen (vyIa)), Jesaja 13,9 (Zorn des Tages des Herrn).
[10] Vgl. Schüngel-Straumann, Mutter, 115.
[11] Vgl. hierzu den Artikel Wacker, Hosea 11.
[12] Ebach, Gott, 221.
[13] Ebd.
[14] A.a.O., 224.
[15] A.a.O., 227.
[16] Gürtler, Mutterschaft, 653.
[17] Lévinas, Jenseits, 169.
[18] A.a.O., 170.
[19] Ebd.
[20] A.a.O., 171.
[21] A.a.O., 179.

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Andreas Zingg (Langenthal),

zurzeit Vikar in Utzenstorf. Erststudium in Geschichte, evangelischer Theologie und Russistik an der Universität Bern. Nach dem Abschluss als lic.phil.hist Zweitstudium der evangelischen Theologie an derselben Universität mit dem Ziel Pfarramt.

© Andreas Zingg, 2013, lectio@theol.unibe.ch, ISSN 1661-3317

 
 
 
 

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