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02-2008

Christiane Steuer Der Fetus ist ein Glied seiner Mutter (ubar yerekh imo): Eine rabbinische Interpretation von Exodus 21:22-24

Abstract:

According to rabbinic literature, the verses Exodus 21:22-24 entail a distinction between the legal status of a fetus and that of a pregnant woman. The mishnah Arakhin 1.4 accordingly rules that, if a pregnant woman is sentenced to death, one executes the punishment immediately and does not wait until the child is born. Contrary to commonly held opinion in scholarly literature, this article argues that the talmudic discussion, which revolves around this mishnah, is not motivated by an attempt to treat the condemned woman with mercy. The participants in this discussion systematically ignore her perspective and read her case as a teaching, the function of which is solely pedagogic: it demonstrates the clash of two contradicting halakhic principles. Whether the ignorance of her perspective can be upheld is questioned by the rabbis themselves: their discussion ends with a contradiction, which is constructed on purpose. Thus, on the one hand, the text has a purely intellectual aim and what it teaches about women is not a historical insight, but rather that the rabbis instrumentalized the woman and her fetus for the sake of constructing a “brain-teaser.” On the other hand, the discussion is not monolithic, but seems as if it is at war with itself: The brain-teaser in the end “deconstructs itself” through a contradiction.

I. Einleitung: der biblische Kasus

In drei Versen, Exodus 21.22-24, schildert die Torah folgende Geschehnisse:

וכי ינצו אנשים ונגפו אשה הרה ויצאו ילדיה ולא יהיה אסון ענוש כאשר ישית עליו בעל האשה ונתן בפללים. ואם אסון יהיה ונתתה נפש תחת נפש עין תחת עין שן תחת שן יד תחת יד רגל תחת רגל.צ

(22) Wenn zwei Männer miteinander streiten und stoßen eine schwangere Frau, dass ihr die Kinder abgehen, aber es ist keine Lebensgefahr: so werde er am Gelde gebüßt, so viel ihm der Ehemann der Frau auferlegt und er zahle durch die Richter. (23)Wenn aber Lebensgefahr ist, so gib ihm Leben um Leben, (24) Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß.

Zwei Männer sind in einen Kampf verwickelt. Unbestimmt bleiben ihre Identität, der Grund, Zeit und Ort des Zusammenstoßes – erzählt wird nur von dem Verlauf des Gefechts: eine schwangere Frau gerät zwischen die beiden Kämpfenden, und einer der Schläge trifft sie. Zwei unterschiedliche, mögliche Folgen dieses Schlags werden nun vorgestellt: Entweder „es ist keine Lebensgefahr“ oder „es ist Lebensgefahr“. In letzterem Fall ist die angemessene Strafe, in den Worten der Torah, „nefesh tachat nefesh“; in ersterem Fall zahlt der Täter einen Geldbetrag an den Ehemann der Schwangeren.

Die Torah formuliert Verbrechen und Bestrafung in diesem, wie auch in diversen anderen Rechtsfällen, in kasuistischer Form: „wenn…, dann…“. Ob die auf diese Weise formulierten Fälle ihren Ursprung in tatsächlich verhandelten Gerichtsfällen haben, ob das in Exodus 21.22-24 beschriebene Unglück jemals geschah, ist unklar. Fest steht einzig, dass ein Fall wie dieser in seiner überlieferten Form der Setzung eines legalen Prinzips dient, welches eine allgemeine, über den speziellen Fall hinausragende Anwendbarkeit beansprucht. Sämtliche ihm spezifischen Details – die Namen der Beteiligten, Ort, Zeit und Anlass der Auseinandersetzung – werden ausgeblendet, um nur noch das auf andere Fälle übertragbare Prinzip, welches diesem Fall unterliegt, herausscheinen zu lassen.

Welches ist dieses Prinzip (oder die Prinzipien), das dem in Exodus 21.22-24 geschilderten Kasus zu Grunde liegt? Die Rabbinen geben eine einstimmige Antwort: Die Formulierung „wenn aber Lebensgefahr ist“ (ואם אסון יהיה) bedeutet, dass der Schlag den Tod der Schwangeren verursacht; [1] wenn aber „keine Lebensgefahr ist“ (ולא יהיה אסון), verursacht der Schlag den Tod des Fetus, nicht aber denjenigen der Schwangeren. Dem rabbinischen Verständnis dieser Verse zufolge sind der Tod der Schwangeren und der des Fetus also zwei gänzlich unterschiedliche Tatbestände, die entsprechend unterschiedliche Strafen nach sich ziehen. [2] Nur wenn eine schwangere Frau, eine nefesh, [3] ihr Leben durch den Schlag verliert, lautet die geforderte Strafe „nefesh tachat nefesh“. [4]

Verursacht der Schlag den Tod des Fetus, so muss der Täter durch die Zahlung einer Geldsumme sühnen, deren Höhe von dem Ehemann der Schwangeren festzulegen ist. Der Ehemann ist auch der Empfänger dieser Zahlung, sie kompensiert seinen Verlust. [5] In diesem Sinne kommentiert auch die Mekhilta de’ Rabbi Yishmael zu den Worten „so viel ihm der Gatte des Weibes auferlegt“ aus Exodus 21.22: „Sie [die Schrift] kommt, um dich zu lehren, dass die Verwundung der Frau dem Ehemann und das Geld für die Kinder dem Ehemann gehören“ [6](כאשר ישית עליו בעל האשה. בא ללמדך הכתוב שחבל אשה לבעל ודמי וולדות לבעל) Die Verwundung wird hinsichtlich der Ökonomie des Haushaltes, dessen Vorsteher und repräsentatives Oberhaupt der Ehemann ist, gewogen; die Sühnezahlung für die Verwundung der Frau „gehört“ ihm.

In diesem Artikel wird untersucht, wie sich der in Exodus geschilderte Fall in den Diskussionen der Rabbinen widerspiegelt. Wie lesen und verarbeiten die Tannaim die Worte „so viel ihm der Ehemann der Frau auferlegt“ aus Exodus, und wie interpretieren die Rabbinen der Gemara, die Amoraim und die Stamaim, die Lehren ihrer Vorgänger?

Eine Mishnah, an Hand derer die Rabbinen die Implikationen dieser Verse ausloten, ist mArakhin 1.4. Die Interpretation dieser Mishnah, die in diesem Artikel vorgeschlagen wird, widerspricht der bisher in wissenschaftlicher Literatur angenommenen Interpretation gänzlich: Nach ersterer bestimmen ethische Überlegungen die Diskussion der Rabbinen, während nach der hier vorgeschlagenen Lesart die Mishnah und die sie besprechende Gemara die Ethik systematisch außen vor lassen.

Am Ende der Gemara lässt lediglich ein nicht aufgelöster, aber scheinbar bewusst provozierter Widerspruch vermuten, dass die Rabbinen eine Diskussion, die jenseits der Ethik stattfindet, in einer Sackgasse enden lassen. Dies kann als eine Kritik des Textes an sich selbst gelesen werden, d.h., eine Kritik an einer Diskussion, welche jenseits der Ethik geführt wird, und nicht, wie bisher oft angenommen, in deren Zentrum eine ethische Überlegung steht.

II. Die Mishnah Arakhin 1.4

האישה שהיא יוצאה ליהרג, אין ממתינין לה עד שתלד. ישבה על המשבר, ממתינין לה עד שתלד [...].כ

Wird eine Frau zur Hinrichtung hinausgeführt, so warte man nicht, bis sie geboren hat; sitzt sie auf dem Gebärstuhl, so warte man damit, bis sie geboren hat. […]

Die Mishnah mArakhin 1.4 [7] steht mit den Versen in Exodus in unmittelbarem Zusammenhang, denn sie impliziert eine Unterscheidung zwischen dem Status eines Fetus und dem einer schwangeren Frau: Ein Todesurteil über eine schwangere Frau muss ohne Verzögerung vollstreckt werden, denn sie ist ein Rechtskörper, der Fetus jedoch nicht.

Obgleich diese Mishnah klingt, als beschreibe sie einen konkreten, aktuellen Zustand, verfügten die Tannaim tatsächlich über keinen Machtapparat, mit dem sie Todesurteile hätten fällen und vollstrecken können. [8] Wie die Amoraim selbst berichten, wurde die Befugnis, in Todesstrafsachen zu richten, dem Sanhedrin „vierzig Jahre vor der Zerstörung des Tempels“ [9] entzogen. Für die theoretische Bedeutung dieser Lehre spricht auch der Wortlaut des Textes selbst: Die zweite Phrase „sitzt sie auf dem Gebärstuhl, so warte man damit, bis sie geboren hat“ beschreibt eine Situation, in der eine Frau während der Geburt zum Tode verurteilt wird. Die Vollstreckung des Urteils wird in diesem Fall verzögert, jedoch lässt sich kaum vorzustellen, dass wenn die Verurteilte bereits auf dem Geburtsstuhl (משבר) sitzt, die Urteilsvollstreckung nicht verzögert werden kann. Die Mishnah von der Hinrichtung der Schwangeren spiegelt also weder eine praktische Situation wieder, noch entspricht sie den politischen Machtverhältnisse, die während ihrer Entstehung herrschten. [10]

Tatsächlich scheint die Hinrichtung der verurteilten Schwangeren die Tannaim überhaupt nicht um ihrer selbst Willen zu interessieren: An keiner Stelle erwähnen sie, wer die Verurteilte ist, warum, wann und wo sie hingerichtet wird. Sie beachten weder das Verbrechen, noch die Person der Verurteilten, sie ignorieren ihre eingeschränkten Machtbefugnisse und sämtliche praktische Erwägungen. Was sie hier dagegen als eine juridische Selbstverständlichkeit zur Schau stellen, ist, dass sie einen Fetus nicht als einen unabhängigen Rechtskörper betrachten, zu dessen Gunsten eine Hinrichtung verzögert würde: Wird eine schwangere Frau zum Tode verurteilt, stirbt mit ihr zusammen der Fetus. Der Fetus ist ein integraler Bestandteil ihres Rechtskörpers. Er ist, obwohl er auch vor der Geburt einen eigenen physischen Körper hat, vollkommen auf den Körper der Mutter angewiesen. Diese physische Abhängigkeit wird in eine juridische Abhängigkeit „übersetzt“: Der Fetus und die Schwangere sind eine juridische Einheit, obwohl theoretisch oder potentiell, diese Einheit aus mehreren Einheiten besteht, ebenso wie auch zum Beispiel eine Firma ein ‚Rechtskörpers’ sein kann, der eine Vielzahl von Einzelnen inkorporiert. [11]

In kasuistischer Form wird hier an einer zum Tode verurteilten Schwangeren illustriert, was aus den Versen in Exodus hervorgeht: Dass einem Fetus nicht der Status einer nefesh, einer Rechtsperson, zugeschrieben wird, bedeutet auch, dass ihm kein von der Schwangeren unabhängiger Anspruch auf die Berücksichtigung eigener Rechte und Interessen zusteht. Erst wenn die Geburt beginnt, ändert sich sein Status und eine Hinrichtung würde nun verzögert werden. [12] Die Tannaim kreieren mit mArakhin 1.4 also kein neues legales Prinzip, sondern übertragen das aus Exodus 21.22-24 Extrahierte auf einen neuen Fall. [13] Um eben diese juridische Erfassung einer Schwangeren und des Fetus zu illustrieren, scheinen sie die Hinrichtung überhaupt zu beschreiben: Die Lehre wirkt wie eine Inszenierung einer juridischen Idee; die Schwangere, dargestellt durch die Verurteilte wie eine Figur und ihre Hinrichtung wie eine „dramaturgische Handlung“, an Hand derer dem Publikum der Rechtsstatus eines Fetus vor Augen geführt wird. Wenn die „Handlung“ – die Hinrichtung – der Demonstration der juridischen Erfassung eines Fetus dient, nicht aber der Darstellung einer „halakhisch korrekten Hinrichtung“, dann ist auch einleuchtend, warum die Tannaim sämtliche, dem Fall spezifischen Details ausblenden: Ein Schüler ihrer Mishnah kann auf diese Weise das der Lehre unterliegende, auf andere Fälle übertragbare Prinzip entdecken, [14] kurz: Von der Hinrichtung wird nicht um ihrer selbst willen gelehrt, sondern um den juridischen Status eines Fetus zu illustrieren.

III. Die Gemara bArakhin 7a-b

Die erste Bemerkung, mit der die Lehre dieser Mishnah in der Gemara kommentiert wird, ist ein erstauntes „Selbstverständlich! Es ist ja ihr Körper?!“ (פשיטא גופא היא). Diese Formulierung, die an verschiedenen weiteren Stellen im Babylonischen Talmud auftaucht, macht eine Person (oder auch ein Tier) als eine Rechtseinheit kenntlich. Der Ausdruck scheint die gleiche Bedeutung zu tragen wie der terminus technicus, den die Amoraim benutzen, um die Rechtseinheit von Mutter und Fetus anzuzeigen: Ubar yerekh imo, der Fetus ist ein „Glied seiner Mutter" עובר ירך אימו. Weil ein ubar ein yerekh imo ist, unterliegt der ubar eines zur Opferung bestimmten Tieres den Vorschriften für Opfertiere, [16] gehört der ubar eines verkauften Tieres dem neuen Besitzer, [17] ist der ubar in einer Verurteilung des Muttertieres mit eingeschlossen. [18] Der Fetus wird in allen diesen Halakhot als ein „Gliedmaß“ der Mutter kategorisiert und hat keine Rechte, die er unabhängig von der Mutter geltend machen könnte. Der Fetus und seine Mutter sind eine legale Einheit. Der Unterschied zwischen den beiden Formulierungen ubar yerekh imo und gufa hi ist nicht inhaltlicher, sondern technischer Natur: Während mit „der Fetus ist ein Glied seiner Mutter“ speziell die juridische Abhängigkeit eines Fetus von seiner Mutter ausgedrückt wird, ist gufa hi die allgemeine Formel für „x ist ein einziger Rechtskörper“. Zumindest in einer Passage, in bNazir 51a-b, werden beide Ausdrücke auch in einem Atemzug genannt. Ein weiteres Indiz für ihre Äquivalenz ist außerdem, dass Rabbi Johanan, der Urheber des Ausdrucks „ubar lo yerekh imo“ („der Fetus ist kein Glied seiner Mutter“), auch als ein Opponent des gufa hi auftaucht (siehe bHullin 74b). [19]

Beide Ausdrücke, gufa hi und ubar yerekh imo, bezeichnen also die juridische Abhängigkeit des Fetus von seiner Mutter. Sie implizieren aber keine Zweier-, sondern eine Dreierbeziehung: Wie die beiden „Enden“ von ubar yerekh imo, der ubar und imo, rechtlich zueinander stehen, wird im Hinblick auf eine dritte Person ausgehandelt und interessiert im Hinblick auf deren Handlungen: Es ist ein Käufer, ein Besitzer oder ein Opfernder, der einen Statuswechsel initiiert und auf dessen Handlungen sich die Kategorisierung des tierischen Fetus als „Glied seiner Mutter“ auswirkt. Wird der Fetus einer schwangeren Frau als ein yerekh imo bezeichnet, wiederholt sich dieses Muster. Im Traktat Temurah, bTemurah 25a-b, ist folgende Diskussion überliefert:

[...]קסבר רבי יוחנן אם שיירו משוייר עובר לאו ירך אמו הוא. כ

מיתיבי: האומר לשפחת, הרי את שפחה וולדך בן חורין, אם היתה עוברה זכתה לו.צ

[...]

ואי אמרת: שיירו משוייר עובר לאו ירך אמו הו,, אמאי זכתה לו והא תניא נראין

שהעבד זוכה לקבל גט שחרור של חברו מיד רבו שאינו שלו ולא מיד רבו שלו אלא

שמע מינה אם שיירו אינו משוייר ותיובתא דרבי יוחנן.צ

 

Rabbi Johanan ist der Ansicht, was man zurücklässt, bleibe zurück [die Heiligkeit erstreckt sich nur auf die Mutter und das Junge bleibe zurück, C.S.], und die Geburt sei nicht Glied der Mutter. [...]
Man wandte ein: Wenn jemand zu seiner Sklavin gesagt hat: „Du sollst Sklavin bleiben, dein Kind aber soll frei sein“, so hat sie, wenn sie schwanger ist, [die Freiheit] für dieses erlangt. [...]
Wieso erwirbt sie sie für dieses, wenn du sagst, was man zurücklässt, bleibe zurück, und die Geburt sei nicht Glied der Mutter, es wird ja gelehrt, es sei einleuchtend, dass ein Sklave die Freilassungsurkunde seines Nächsten aus der Hand eines fremden Herrn eignen kann, nicht aber aus der Hand seines eignen Herrn!? Hieraus ist also zu entnehmen, dass das, was man zurücklässt, nicht zurückbleibe, und dies ist eine Widerlegung Rabbi Johanans.

Die Amoraim diskutieren hier eine Mishnah, mTemurah 5.3, die festlegt, unter welchen Umständen man ein weibliches Tier als Brandopfer und dessen Junge als Heilsopfer (und vice versa) darbringen darf. Sie versuchen zu klären, auf welchen Prinzipien die in der Mishnah formulierten Bestimmungen beruhen. Der Vorschlag, mit dem die Diskussion eröffnet wird, ist, dass hier die Ansicht Rabbi Johanans, „das Kind ist kein Glied seiner Mutter“, vertreten ist. [20] Diesen Vorschlag wehrt eine anonyme Stimme ab. Sie stellt dabei nicht nur in Frage, dass Rabbi Johanans Theorie die Grundlage von mTemurah 5.3 ist, sondern zweifelt deren Gültigkeit ganz grundsätzlich an. Die Argumentation ist folgende: Es wurde gelehrt, dass eine schwangere Sklavin eine Freiheitsurkunde für ihr Kind empfangen darf und außerdem, dass ein Sklave einem anderen Sklaven nicht einen Freibrief des gemeinsamen Herren übergeben darf. Wenn nun eine schwangere Sklavin dazu befugt ist, für ihr ungeborenes Kind die Freiheitsurkunde ihres Herrn anzunehmen, das Kind aber nicht als ein Glied seiner Mutter gilt, dann wäre dies gleichzusetzen mit dem Fall zweier Sklaven, von denen der Eine (die Mutter) dem Anderen (dem Fetus) die Urkunde übergibt: eine ungültige Transaktion. Wenn man dagegen den Fetus als ein Glied seiner Mutter betrachtet,

אי אמרת [...] עובר ירך אמו, משײַה זכתה לו, והוי ליה, כמשחרר חצי עבד. ומני? רי

מאיר היא. כדתניא: המשחרר חצי עבדו יצא לחירות גיטו וידו באין כאחת.ו

Wenn du sagst, […] der Fetus sei ein Glied seiner Mutter, und sie deshalb für ihn die Freiheit erlangt, dann ist es ebenso, als würde jemand die Hälfte seines Sklaven freilassen und zwar nach Rabbi Meir, denn es wird gelehrt, wenn jemand die Hälfte seines Sklaven freilässt, gehe er frei aus, denn seine Freilassungsurkunde und seine Hand [seine Befugnis zur Empfangnahme der Urkunde] kommen gleichzeitig. [21] (bTemurah 25b)

Die Lehre, nach der eine schwangere Sklavin eine Freilassungsurkunde für ihren Fetus empfangen darf, funktioniert also nur dann, wenn man den Fetus als ein Glied seiner Mutter erfasst. Nur wenn ein ubar ein yerekh imo ist, kann eine Sklavin für den Fetus die Freiheit erlangen. Und weil sie die Freiheit für den Fetus erlangen kann, „muss“ ein ubar ein yerekh imo sein. Das Prinzip, dessen Gültigkeit hier auf dem Prüfstand steht – ubar yerekh imo – wird durch ein anderes Prinzip bewiesen, nämlich: „eine Sklavin kann eine Freiheitsurkunde für ihren Fetus aus der Hand des Herren erlangen.“

Letztere Lehre ist eine theoretische Ausweitung des Einflussbereiches des Sklavenbesitzers: Er ist es, der die Befreiung des Fetus initiiert, während die Sklavin die Funktion einer Mittlerin zwischen ihm und dem Fetus erfüllt. Die implizite männliche Perspektive, von der aus das Prinzip formuliert wird, muss hier „laut“ mitgelesen werden: Dass ein Fetus als ein Glied seiner Mutter zu betrachten ist, sehen die Rabbinen in dem Umstand bewiesen, dass „jemand“, der Sklavenbesitzer, das Kind seiner Sklavin noch vor dessen Geburt befreien kann.

Warum nur sollte er dies tun? Im Mutterleib entwickelt sich ein Fetus völlig unabhängig davon, wer ihm welche Urkunde zukommen lässt, ob ihm der Status eines Freien oder eines Sklaven zugeschrieben wird. Dass ein Sklavenbesitzer den Status eines Fetus verändern kann, berührt den Fetus vor der Geburt überhaupt nicht. Nach der Geburt allerdings kann ein Besitzer sowieso völlig beliebig über das Neugeborene walten, denn mit dem Beginn der Geburt verliert der Fetus seinen abhängigen Status als „Glied seiner Mutter“. Obwohl die Übergabe der Urkunde tatsächlich erst nach der Geburt Konsequenzen hat, und der Sklavenbesitzer nach der Geburt über das Neugeborene sowieso beliebig walten kann, statuiert diese Lehre, dass ein Sklavenbesitzer einen Fetus auch schon vor dessen Geburt befreien kann.

Die Lehre, in der die Rabbinen das ubar yerekh imo repräsentiert und bewiesen sehen, legt damit fest, welche – wenn auch nur theoretisch relevanten – Konsequenzen die legale Abhängigkeit des Fetus von der Mutter auf seinen Einflussbereich während der Schwangerschaft hat. Sie statuiert einen juridischen und theoretischen Zugriff des Sklavenbesitzers auf den Fetus. Dass eine Frau und der Fetus als ein Rechtskörper betrachtet werden, hat Auswirkungen auf seine Besitzansprüche und ermächtigt nicht sie, sondern ihn, den Ehemann (bzw. den Sklavenbesitzer), über dieses „Glied“ auch zu verfügen. Ironischerweise drücken die Rabbinen also mit „der Fetus ist ein Glied seiner Mutter“ die Zuschreibung des Fetus in den Bereich des Vaters aus – sie sind genaue Leser und Exegeten auch der zweiten Phrase von Exodus 21.22, d.h., derjenigen Phrase, die den Verlust des Fetus als eine Schädigung des Besitzes des Ehemannes definiert: „aber es ist keine Lebensgefahr: so werde er am Gelde gebüßt so viel ihm der Ehemann der Frau auferlegt“. Auch der biblische Vers, den die Rabbinen im Anschluss an die zitierte Sugyah als Stütze für das ubar yerekh imo heranziehen, fügt sich diesem Muster: „Wenn sein Herr ihm [dem Sklaven, der freigelassen werden soll] eine Frau gibt und sie gebiert ihm Söhne oder Töchter, bleibt die Frau und ihre Kinder ihrem Herrn, und er geht aus für seine Person.“ (Exodus 21.4). Eine Sklavin und ihre Kinder gehören dem Sklavenbesitzer, weil, so die Rabbinen, ein Fetus ein „Glied seiner Mutter“ ist! Der Vers legt die Besitzrechte eines Herren über seine schwangere Sklavin fest, genauso wie die Rabbinen mit ubar yerekh imo beschreiben, was passiert, wenn über eine Mutter oder den Fetus ein Statuswechsel beschlossen wird. Wenn die Amoraim die unverzögerte Vollstreckung des Todesurteils mit der Ausspruch „gufa hi!“ kommentieren, dann sehen sie in mArakhin 1.4 eine Illustration des juridischen Status eines Fetus, seiner absolute Abhängigkeit vom Rechtskörper der Schwangeren, nicht aber die Zugehörigkeit des Fetus zu ihrem „Besitz“.

III.1. mArakhin als ein „borderline-case“

Dass an der juridischen Abhängigkeit des Fetus auch dann, wenn eine Schwangere zum Tode verurteilt wird, mit uneingeschränkter Gültigkeit festgehalten wird, lässt die anonyme Stimme in bArakhin 7a als eine Selbstverständlichkeit erscheinen – „pshita!“ („Selbstverständlich!“) – wegen einer solchen Selbstverständlichkeit hätten die Tannaim diese Mishnah sicherlich nicht extra gelehrt! Es muss einen Grund dafür geben, dass die Tannaim es für notwendig befanden, eine solche Selbstverständlichkeit in die Mishnah aufzunehmen!

Was die Stamaim, die anonymen Kommentatoren der Diskussion, hier erstaunt, ist nicht, dass zu Demonstrationszwecken eines Prinzips ein absurd anmutender Fall konstruiert wird – die Tannaim ignorieren in ihren Diskussionen oft systematisch historische Umstände und sind im allgemeinen passionierte Konstrukteure bizarrer Fälle. Auch dass zur Illustration des juridischen Status eines Fetus kein „Normalfall“, d.h. ein Fall, in dem sich der Rechtsstatus einer Schwangeren nicht verändert, konstruiert wird, muss ihnen einleuchtend erschienen sein: Erst wenn eine Schwangere einem legalen Statuswechsel wie zum Beispiel einer Verurteilung unterliegt, stellt sich die Frage nach dem juridischen Status ihres ungeborenen Kindes. Die Erfassung des Fetus als „nicht-nefesh“ wird nur dann überhaupt relevant und tritt nur dann in Erscheinung, wenn ihr Status sich verändert.

Das Erstaunen rührt aus der Überzeugung, jedes Wort der Mishnah (und der Torah, selbstverständlich) habe eine bestimmte Funktion, einen „Grund“. Die Mishnah kann keine Wiederholungen, irrelevante Zusätze oder Widersprüche enthalten, einen bizarren Fall wie mArakhin 1.4 können sich die Tannaim nicht willkürlich ausgedacht haben. [22] Warum wird der juridische Status eines Fetus ausgerechnet am Falle einer zum Tode verurteilten Schwangeren in Szene gesetzt? Es ließen sich diverse Fälle kreieren, an Hand derer sich diese Erfassung ebenso demonstrieren ließe; zum Beispiel könnte das Todesurteil einfach durch jede andere, weniger schwere Verurteilung ersetzt werden. Warum demonstrieren die Tannaim ein juridisches Prinzip ausgerechnet an einem Kasus, den sie faktisch nicht richten konnten, und der absurd und grausam ist? Es muss, so die Überzeugung der Ausleger der Mishnah, einen weiteren Grund für die Existenz dieser Lehre geben. Unmittelbar auf das „pshita, gufa hi!“ liefert eine anonyme Stimme deshalb folgende Erklärung:

איצטריך סײַד אמינא הואיל וכתיב כאשר ישית עליו בעל האשה ממונא דבעל הוא

ולא ליפסדיה מיניה, קא משמע לן. נ[...]ב

ישבה על המשבר וכו’: מאי טעמא? כיון דעקר גופא אחרינא הוא.צ

Dies ist nötig; da es heißt: so viel ihm der Gatte des Weibes auferlegt (Exodus 21.22), so könnte man glauben, [der Fetus] sei sein Eigentum und man dürfe ihm keinen Schaden zufügen, so lehrte er uns. […] [23]
Sitzt sie auf dem Gebärstuhl &. Aus welchem Grunde? – Sobald [der Fetus] sich gelöst hat, ist es ein anderer Körper [gufa aharina hu].


„Man könnte glauben“ (סלקא דעתך אמינא) – hätte die Mishnah uns nicht eines besseren belehrt – dass die Hinrichtung verzögert wird, weil ein Ehemann seines Eigentums nicht beraubt werden darf. Ein Ehemann könnte sich, so die Überlegung, im Angesicht der Hinrichtung seiner Ehefrau dazu veranlasst sehen, seinen Anspruch auf den Fetus geltend zu machen – ein Anspruch, dem aber nicht soviel Gewicht beigemessen wird, als dass dieser die Kategorisierung des Fetus als abhängiger Teil des mütterlichen Rechtskörpers aussetzen könnte. Die Erfassung eines Fetus als „Nicht-Rechtsperson“ lässt sogar die biblischen Besitzansprüche eines Ehemannes verblassen.

Die Rabbinen der Gemara lesen diese Mishnah als einen Fall, der sie zu der Suche nach einem zweiten, von den Tannaim zur Seite gedrängten Prinzip auffordert. Die Suche nach diesem zweiten legalen Prinzip führt sie zu denselben Versen, aus denen sie auch den Status des Fetus als „Nicht-Rechtsperson“ schließen: Exodus 21.22-24. Würden die Eigentumsrechte eines Ehemannes schwerer wiegen als die Abhängigkeit des Fetus vom Rechtskörper seiner Mutter, so würde eine Hinrichtung verzögert! Weil der Fall der Mishnah theoretisch also gemäß zweier gleichermaßen plausibler Prinzipien interpretiert werden kann, eines der beiden aber nichtsdestotrotz ignoriert wird, bedurfte es der Lehre von der Hinrichtung. Die Mishnah über die zum Tode Verurteilte ist ein „borderline case“, [24] ein Kasus, dessen Lektion zuerst für „selbstverständlich“ (peshita) gehalten wird, den die Tannaim aber lehrten (tsrikha), um ein Prinzip, welches diesen Fall ebenso hätte bestimmen können, hier nicht operieren zu lassen: „Man könnte glauben, dass…, aber die Mishnah lehrt uns, dass dies nicht gilt.“ [25] Die Amoraim sehen den Wert der Mishnah darin, dass sie dieses zweite, plausible Prinzip („was man hätte glauben können“) als hier unterlegenes Prinzip enttarnt. [26] Die Lehre ist für sie eine abstrakte Inszenierung von „pädagogischem“ Interesse: Sie fordert den Schüler zu der Suche nach einem Prinzip auf, das ihr theoretisch ebenso unterliegen könnte. Erst die Identifizierung dieses zweiten Prinzips erklärt und rechtfertigt die Existenz der Mishnah mArakhin 1.4. [27]

Würde man von der Zweckgebundenheit dieser Mishnah abkommen, genauer: würden die Amoraim diese Mishnah so verstehen, als lehren die Tannaim von der Hinrichtung um ihrer selbst willen, so nähme ihre Diskussion vermutlich einen anderen Verlauf: Auf die Frage „warum diese Mishnah?“ ließe sich intuitiv eine andere Antwort finden als „sie war nötig zu lehren, um die Priorität des Rechtsstatus eines Fetus gegenüber den Rechten eines Ehemannes zu statuieren“. Diese andere Antwort ist: „Diese Mishnah war notwendig zu lehren, weil man auf die Idee kommen könnte, dass im Angesicht einer Hinrichtung die Erfassung eines Fetus als nicht-nefesh aufgeweicht wird, die Hinrichtung zu Gunsten des Lebens des Fetus verzögert wird. [28] Die Mishnah ist – würde man diese Antwort geben – notwendig zu lehren, weil sogar bei einer Hinrichtung die Erfassung eines Fetus als nicht-nefesh beibehalten wird, das Prinzip sogar in diesem Fall uneingeschränkt operiert. Gemäß dieser Lesart würden die Tannaim von der Hinrichtung lehren, weil sie eine Mishnah über den Status des Fetus in diesem speziellen, ungewöhnlichen und extremen Fall für notwendig befanden.

Nähmen die Amoraim an, dass die Tannaim von der Hinrichtung lehren, weil sie diese als „ungewöhnlich“ betrachten, so würden sie damit zumindest implizit auch die Gewalt, mit der eine Hinrichtung einem Menschen das Leben nimmt, in ihren Diskurs einbeziehen. Wenn sie dagegen feststellen, dass die Mishnah mArakhin 1.4 nur deshalb gelehrt wurde, weil die Priorität eines juridischen Prinzips der Demonstration bedurfte, ist die Gewalt, die das Bild zur Schau stellt, nicht Teil der Diskussion. Sie lesen die Mishnah mArakhin 1.4 als einen Fall, der benutzt wird, um über etwas anderes, als diesen speziellen Fall zu sprechen: Die Tannaim demonstrieren an ihm den Rechtsstatus eines Fetus, die Stamaim erklären, diese Demonstration finde nur deshalb statt, weil an ihr die Kollision zweier Prinzipien und die Dominanz des Einen gezeigt werden soll. Von der Hinrichtung wird in keinem Moment um ihrer selbst willen gelehrt, es geht nie um sie: Sie bleibt Mittel zum Zweck, dienlich der Illustration eines juridischen Prinzips, bzw. des Zusammenstoßes zweier Prinzipien. Das Szenario wird benutzt – die Hinrichtung an sich aber überhaupt nicht thematisiert. Sie ist ein dialektisches Spiel, ihre imaginierte Protagonistin eine abstrakte Spielfigur.

Die Mishnah ist damit zwar kein Abbild sozialer Wirklichkeit, jedoch zeigt sie, dass die Tannaim, um einen „borderline case“ zu konstruieren und zu visualisieren, auf ein Bild wie die Hinrichtung einer Schwangeren zurückgreifen konnten. Das Benutzen eines solchen Bildes scheint ihnen nicht unpassend oder außergewöhnlich vorgekommen zu sein, es ist eines von unzählig vielen andere Bildern, an Hand derer sich Grenzfälle ausloten lassen. Zwischen einer Taube, die ausgerechnet zwischen zwei Taubenschlägen gefunden wird (siehe mBava Bathra 2.6), einem Huhn, das ein Kriechtier verschluckt und anschließend in einen Ofen fällt (siehe mKelim 8.5), und einer schwangeren Frau, die zum Tode verurteilt wird, besteht für die Tannaim, was die Möglichkeit ihrer exegetischen „Nutzung“ angeht, kein Unterschied. Der Fall existiert auf Grund einer einzigen Eigenschaft – er illustriert die Kollision zweier legaler Prinzipien. Sämtliche Eigenschaften dieses Falls, die jenseits seiner exegetischen Nützlichkeit liegen, werden hier ignoriert. Die Tannaim benutzen und abstrahieren das Szenario einer Hinrichtung und schließen damit die Grausamkeit des vorgestellten Aktes gänzlich aus.

III.2 Ein Einwurf Shmuels

Ein einzelner Rabbi, Shmuel, liest diese Mishnah nicht als einen „borderline case“. Rav Jehudah überliefert im Namen Shmuels folgendes:

אמר רב יהודה אמר שמואל: האשה היוצאה ליהרג מכין אותה בית

הריון כדי שימות הוולד תחילה כדי שלא תבא לידי ניוול.צ

Rav Jehudah sagte im Namen Shmuels: Wird eine Frau zur Hinrichtung hinausgeführt, so versetze man ihr einen Schlag gegen die Schwangerschaftsstelle [29] ,damit das Kind zuerst sterbe, damit nicht eine Beschämung über sie komme.

Laut Rav Jehudahs Überlieferung, ordnet Shmuel an, den Fetus einer verurteilten Schwangeren vor ihr umzubringen, „damit nicht eine Beschämung über sie komme“ (שלא תבא לידי ניוול). Das Wort nivvul (ניוול) bezeichnet eine Entstellung, Verunstaltung, eine psychische Beschämung und physische Bloßstellung. [30] Die verurteilte Schwangere würde – so Shmuel – „beschämt, verunstaltet“, wenn der Fetus erst nach ihrem Tod stirbt. [31]

Die Beschämung, die Shmuel durch einen Schlag auf den Unterleib meint vermeiden zu können, steht mit einem bestimmten halakhischen Grundsatz in Zusammenhang: Eine Leiche muss „vollständig“ bleiben; weder Körperflüssigkeiten dürfen aus dem Körper des Toten austreten, noch sollen einzelne seiner Glieder fehlen. [32] Die Schlag auf den Unterleib der Schwangeren dient der Verhinderung dieser „Beschämung“ – eine Betrachtung dieser Prozedur aus der Perspektive der Verurteilten bleibt vollkommen außerhalb des Diskurses.

Shmuels Einwurf bringt jedoch konzeptuelle Unordnung in die rabbinische Diskussion: Während die anderen Rabbinen mArakhin 1.4 als einen Fall lesen, an dem die Tannaim die Kollision zweier Prinzipien und die Dominanz des Einen illustrieren, ist für Shmuel dieser spezifische Fall das Fundament seiner Aussage: Er äußert eine Lehrmeinung, die sich tatsächlich auf eine verurteilte Schwangere, und nur auf eine verurteilte Schwangere beziehen kann: Ausschließlich in dem Fall einer Hinrichtung, das heißt, wenn man den Todeszeitpunkt einer Frau vorher bestimmen kann, ist überhaupt möglich, den Fetus vor ihr umzubringen: „So versetze man ihr einen Schlag gegen die Schwangerschaftsstelle, damit das Kind zuerst sterbe.“ In dem Moment, in dem Shmuel die Zweckgebundenheit dieser Mishnah nicht übernimmt und zu der Partikularität dieses speziellen Falles springt, sobald er die Mishnah als eine Lehre liest, in der es tatsächlich um eine Hinrichtung und um eine zum Tode Verurteilte geht, zerbricht damit auch die bis dahin konsequente Instrumentalisierung der Szenerie: Shmuels Einwurf bezieht sich ausschließlich auf die zum Tode Verurteilte und ist eine logische Konsequenz seiner Lesart: Verwandelt sich der „borderline case“ in ein „reales“ Szenario, zieht er einen halakhischen Grundsatz auf sich – die Vollständigkeit des toten Körpers – zu dessen Realisierung man den Fetus der Verurteilten vor ihr umbringen muss.

Eine anonyme Stimme reagiert auf den störenden Schritt Shmuels entsprechend: Sie wandelt die Begründung, die er für seine Lehrmeinung angibt so um, dass sie sich in die juridisch – abstrakte Agenda der vorangegangenen Exegese fügt:

[...]למימרא דהיא קדמה ומתה ברישא והא קיימא לן דוולד מיית ברישא!?צ

Demnach stirbt sie zuerst, während doch uns bekannt ist, dass das Kind zuerst sterbe!? […]

Diesem Einwand zufolge ist Shmuels Aussage wir folgt zu verstehen: „Wenn man den Fetus töten muss, damit er vor seiner Mutter stirbt, besteht wohl die Möglichkeit, dass er erst nach ihr stirbt! Shmuel will durch den Schlag eine Situation, in der ein Fetus erst nach seiner Mutter stirbt, vermeiden! Aber – und das ist unser Einwand: Kann ein Fetus wirklich erst nach seiner Mutter sterben? Uns ist doch bekannt, dass das Kind zuerst stirbt!? Wenn aber ein Kind sowieso vor seiner Mutter stirbt, müsste man es doch auch nicht vorher töten?! Der Schlag ist dann ganz und gar überflüssig!“

Shmuels Lehrmeinung wird einzig auf der Grundlage physiologischer Kenntnisse in Frage gestellt. Was genau die nivvul ausmacht und ob sich diese durch das von Shmuel vorgeschlagene Prozedere vermeiden lässt, interessiert nicht. Die anonyme Stimme der Gemara liest Shmuel, als habe dieser vor demselben Problem gestanden, was sie auch selbst hätte, wenn sie annehmen würde, dass ein Fetus erst nach seiner Mutter stirbt: Wenn ein Fetus sich nämlich trotz der juridischen Einheit mit seiner Mutter nach deren Tod „verselbständigen“ kann – d.h. nach ihr sterben kann – dann muss diese physiologische Unabhängigkeit vorbeugend der juridischen Abhängigkeit angeglichen werden. Ein Meinungsunterschied besteht nach dieser Lesart ausschließlich in der Frage des natürlichen Todeszeitpunkts eines Fetus: „Wir sind alle an einem ‚synchronen Tod’ interessiert und streiten nur darüber, ob dieser von selbst eintritt, wie wir meinen; oder ob man diesen herbeiführen muss, wie Shmuel meint.“ Die anonyme Stimme kann Shmuels Aussage auf der Grundlage physiologischer Kenntnisse in Frage stellen, weil sie die Situation, die Shmuel zu vermeiden versucht, als die Ungleichheit von juridischer Konzeption und physiologischer Realität versteht.

Für die Gemara bleibt nun nur noch zu klären, wessen physiologische Kenntnisse der Realität entsprechen. Eine weitere anonyme Stimme schlägt einen Kompromiss vor:

הני מילי לגבי מיתה איידי דוולד ּּזוטרא חיותיה טיפה דמלאך המות ומחתך להו

לסימנין,ו

אבל נהרגה היא מתה נרישא.צ

והא הוה עובדא ופרכיס עד תלת פרכוסי מידי דהוי אזנב הלטאה דמפרכסת.צ

Dies nur bei einem [natürlichen] Tode, denn da das Leben des Kindes nur schwach ist, dringt der Tropfen des Todesengels ein und durchschneidet ihm die Halsgefäße, wenn die Mutter aber hingerichtet wird, stirbt sie zuerst.
Einst ereignete es sich ja aber, dass sie [die Geburt nach dem Tod der Mutter] bis drei Zuckungen zuckte!? Wie dies auch beim Eidechsenschwanze der Fall ist, der ebenfalls zuckt.[33]

Laut diesem Kompromiss stirbt ausschließlich der Fetus einer zum Tode verurteilten Schwangeren nach ihr, weshalb auch nur dieser vorher zu töten ist. Auch Shmuel würde aber zustimmen, dass der Fetus einer Schwangeren, die eines natürlichen Todes stirbt, immer vor ihr stirbt. Wenn nach dem natürlichen Tod einer Schwangeren „die Geburt bis zu drei Zuckungen zuckt“, ist dies nicht auf das Leben des Fetus zurückzuführen, sondern eine Art willkürliche Bewegung „wie dies auch beim Eidechsenschwanze der Fall ist“. Der Todeszeitpunkt eines Fetus ist diesem Kompromiss zufolge von der Todesart seiner Mutter abhängig: Stirbt sie eines natürlichen Todes, stirbt der Fetus vor ihr, wird sie hingerichtet, stirbt der Fetus nach ihr.

Der Kompromiss währt nicht lange – einmal ausgesprochen, stellt eine Lehrmeinung, die Rav Nahman im Namen Shmuels überliefert, ihn umgehend in Frage:

אייר נחמן אמר שמואל: האשה שישנה על המשבר ומתה בשבת מביאין סכין

ומקרעים את כריסה ומוזיאין את הוולד.ז

Rav Nahman sagte im Namen Shmuels: Wenn eine Frau am Shabbat auf dem Gebärstuhl sitzt und stirbt, so hole man ein Messer, schlitze ihr den Bauch auf und hole das Kind heraus.

Rav Nahman überliefert, dass Shmuel den Shabbat entweihen lässt, wenn eine Frau während der Geburt am Shabbat stirbt: „Man [hole] ein Messer, schlitze ihr den Bauch auf und hole das Kind heraus.“ Ginge man gemäß des vorangehenden Kompromisses davon aus, dass ein Fetus bei einem natürlichen Tod der Mutter immer und grundsätzlich vor ihr stirbt, dann lässt Shmuel hier wegen eines toten Fetus den Shabbat zu entweihen, jedoch darf der Shabbat nur entweiht werden, um einen lebenden, oder zweifelhaft lebenden Menschen zu retten! Die Lehrmeinung, die Rav Nahman im Namen Shmuels überliefert, zeigt also, dass der Kompromiss nicht funktioniert: Shmuel geht davon aus, dass der Fetus einer Schwangeren unabhängig davon, ob sie eines unnatürlichen oder eines natürlichen Todes stirbt, erst nach ihr sterben kann (bzw. nach ihrem Tod noch leben kann). Die Rabbinen selbst erkennen diese Implikation der überlieferten Lehrmeinung Shmuels: Sie stellen explizit fest, dass Shmuel den Shabbat wegen zweifelhaften Lebens entweihen lässt:

פשיטא, מאי עביד? מחתך בבשר הואִ.ו

אמר רבה: לא נצרכה, להביא סכין דרך רשות הרבים. ומאי קמשמע לן? דמספיקא

מחללינן שנתא, תנינא: מי שנפלה עליו מפולת, ספק הוא שם ספק אינו שם, ספק חי

ספק מת, ספק כנעני ספק ישראל מפקחין עליו את הגלִ.ו

מהו דתימא: התם הוא דהוה ליה חזקה דחיותא, אבל הכא דלא הוה ליה הזקה דחיותא

מעיקרא אימא לא, קמ’’ל.י

Selbstverständlich, man tut ja hierbei nichts weiter als Fleisch zu schneiden!? Raba erwiderte: Nicht deshalb [wegen des Schneides] ist diese Lehre nötig, [sondern weil] man nämlich das Messer über öffentliches Gebiet holen darf. Er lehrt uns somit, dass man des Zweifels wegen den Shabbat entweihen dürfe, und dies haben wir ja bereits gelernt?! Wenn über einen Trümmer zusammengestürzt sind und es zweifelhaft ist, ob er sich da befindet oder nicht, oder es zweifelhaft ist, ob er lebt oder tot ist, ob er ein Nichtjude oder ein Israelit ist, so trage man seinethalben die Trümmer ab. [34] Man könnte glauben, dies gelte nur da, wo es feststeht, dass er vorher gelebt hat, nicht aber hierbei, wo es nicht feststeht, dass er vorher gelebt hat, so lehrt er uns.

Zwischen der Tradition, die Rav Nahman im Namen Shmuels überliefert, und dem vorangehenden Kompromiss steht damit ein Widerspruch: Shmuels Annahme, ein Fetus könne auch nach dem Tod seiner (verurteilten oder nicht verurteilten) Mutter noch leben, widerspricht dem Kompromiss „ein Fetus stirbt im Falle des natürlichen Todes der Mutter immer vor ihr und nur im Falle des unnatürlichen Todes nach ihr“.

Es scheint unwahrscheinlich, dass den Rabbinen der Gemara dieser Widerspruch nicht aufgefallen ist; umso mehr, weil dieser aus der Art und Weise, in der sie selbst Shmuels Vorschlag lesen, entsteht. Eine Rekapitulation in Schritten:

1. Aus Shmuels „ein Fetus muss vor seiner Mutter sterben, um Hässliches zu vermeiden“ schließen die Rabbinen, dass Shmuel versucht, das Sterben des Fetus nach seiner Mutter zu vermeiden.

2. Aus dieser Interpretation folgt notwendigerweise, dass der Fetus einer nicht verurteilten Mutter immer vor ihr stirbt (siehe Kompromiss): Um einen Fetus vor dem Tod seiner Mutter töten zu können, muss ihr Todeszeitpunkt feststehen und bekannt sein. Um auch im Falle eines natürlichen Todes verhindern zu können, dass ein Fetus nach seiner Mutter stirbt, muss also festgelegt werden, dass dieser sowieso, von selbst vor ihr stirbt.

3. Diese Schlussfolgerung der Stamaim widerspricht der von Rav Nahman überlieferten Lehre Shmuels, aus der hervorgeht, dass Shmuel von jedem Fetus annimmt, er könne erst nach seiner Mutter sterben.

Auf der einen Seite steht also die rabbinische Auslegung von Shmuels Aussage („Shmuel lässt den Fetus einer Verurteilten töten, um dessen Sterben nach ihr zu vermeiden“), aus der der Kompromiss „der Fetus einer nicht verurteilten Mutter stirbt immer vor ihr“ folgt. Auf der anderen Seite steht die von Rav Nahman überlieferte Lehrmeinung Shmuels, aus der hervorgeht, dass auch der Fetus einer nicht-verurteilten Mutter erst nach ihr stirbt. Obwohl der Widerspruch offensichtlich ist, sprechen die Rabbinen nicht weiter über die im Namen Shmuels überlieferten Traditionen. Die Sugyah endet hier. Warum?

Der Widerspruch lässt sich auf genau zwei Wegen auflösen: Der simple Ausweg ist anzunehmen, dass Shmuel seinen Schülern unterschiedliche, widersprüchliche Traditionen unterrichtete. Diese Auflösung jedoch ist gemäß der Logik der Gemara ausgeschlossen. Der zweite Weg, auf dem sich der Widerspruch auflösen lässt, beginnt mit der Hinterfragung der rabbinischen Interpretation Shmuels: Wenn dieser versucht, den Tod des Fetus nach der verurteilten Mutter zu vermeiden, tut er dies vielleicht nicht, weil er an einem „synchronen Tod“ von Mutter und Fetus interessiert ist. Die Begründung für seinen Vorschlag lautet „damit nicht eine Beschämung über sie komme“, das heißt: Er lässt den Fetus der zum Tode verurteilten Schwangeren vor ihrer Hinrichtung töten, nicht – wie die Rabbinen interpretieren – um dessen physiologische Selbstständigkeit der juridischen Abhängigkeit anzupassen, sondern um die Beschämung der Verurteilten zu vermeiden. Würden die Rabbinen der Gemara annehmen, dass Shmuel die Tötung des Fetus vorschlägt, weil er die Beschämung der Verurteilten zu vermeiden versucht, entstünde auch kein Widerspruch: Es wäre dann irrelevant, ob auch der Fetus einer nicht zum Tode verurteilten Schwangeren erst nach ihr stirbt, denn Shmuels Lehre bezieht sich ausschließlich auf die zum Tode verurteilte Schwangere.

Wären die Rabbinen bestrebt gewesen, diese Art der Auflösung des Widerspruchs zu verhindern, so hätten sie die Lehrmeinung Shmuels entweder überhaupt nicht tradieren, die Aussage Rav Nahmans an eine andere Stelle versetzen, oder sie einfach ganz unterschlagen können. Anstatt dessen stellen sie unmittelbar neben ihren Kompromiss die Überlieferung Rav Nahmans und positionieren damit neben ihre eigene Interpretation eine Tradition, die der Ihrigen direkt und systematisch widerspricht. Ein/e Leser/in dieser Sugyah bekommt den Widerspruch zwischen dem aus ihrer Interpretation entstehenden Kompromiss und Rav Nahmans Überlieferung auf einem „goldenen Teller“ präsentiert, die Gemara führt ihre Leser sozusagen an der Hand zu einem Widerspruch; sie zwingt und fordert, diesen zu sehen und auf die oben beschriebene Weise aufzulösen. Warum provozieren die Rabbinen durch die Konstruktion eines Widerspruchs die Dekonstruktion ihrer eigenen Interpretation?

Um diese Frage zu beantworten, muss ein Blick zurück auf den Anfang dieser Analyse geworfen werden: Ließen sich die Rabbinen auf eine Begründung wie die „Vermeidung einer nivvul“ ein, so müssten sie die Mishnah als einen Fall verstehen, der um seiner selbst willen gelehrt wird. Dies würde jedoch die Art und Weise, in der sie diese Mishnah lesen, völlig auf den Kopf stellen: Für sie ist die Hinrichtung eine Inszenierung, die die Kollision zweier Prinzipien demonstriert. In dem Moment, in dem Shmuel den Fall nicht als eine solche zweckgebundene Inszenierung begreift, sondern tatsächlich über eine Hinrichtung nachdenkt, wird die Instrumentalisierung der Hinrichtung (und der Hingerichteten) nicht mehr aufrecht erhalten: Die Verurteilte kann nur solange als vollkommen abstrakt repräsentiert werden, wie ihre Hinrichtung ein „pädagogisches“ Spiel innerhalb des Lehrhauses bleibt und ihre Zweckgebundenheit nicht einbüßt. Die Diskussion läuft durch Shmuel Gefahr außer Kontrolle zu geraten: „Wir benutzen eine zum Tode verurteilte Schwangere, um die Kollision zweier Prinzipien zu demonstrieren und enden damit, über die Beschämung der Verurteilten nachzudenken?!“ – Weil die Rabbinen von der Hinrichtung nicht um ihrer selbst willen lehren, können sie hier auch nicht solche Überlegungen Teil der Diskussion werden lassen, die in den Kontext der Todesurteile gehören. Das Argument Shmuels wird folglich “ummodelliert”, den Zielen der Mishnah angepasst – während gleichzeitig aber die Künstlichkeit dieser Ummodellierung durch einen unaufgelösten, offen konstruierten Widerspruch angezeigt wird. Die Rabbinen wissen, dass sie Shmuels Aussage nicht im Sinne Shmuels, sondern gemäß ihres eigenen Programms interpretieren. Während sie Shmuels nivvul-Argument hier, wo die Kollision zweier juridischer Prinzipien demonstriert werden soll, umwandeln, fast verschwinden lassen, schließen sie sein Argument gleichzeitig nicht per se aus: die unausgesprochene, aber provozierte Auflösung des Widerspruchs zwischen Shmuels Einwurf und der rabbinischen Interpretation desselben führt unausweichlich zu der Erkenntnis, dass Shmuel den Fetus einer zum Tode verurteilten Frau nur deshalb töten lässt, weil er glaubt, auf diese Weise ihre Beschämung vermeiden zu können.

III.3. Eine andere Lesart: Shmuels Einwurf als rhetorische Frage

Dass die Rabbinen eine solche Auflösung des Widerspruchs vermeiden auszusprechen, gleichzeitig aber provozieren, könnte einen weiteren Grund haben: Vielleicht liegt genau in der Gegenüberstellung beider Lesarten und dem Bestehenlassen des resultierenden Widerspruchs eine Kritik an der Mishnah selbst: Aus einem pädagogischen „Spiel“ – dem Konstruieren eines Falles, in dem zwei Prinzipien kollidieren – wird, sobald Shmuel diese abstrakte Lesart verlässt, eine Eskalation der Gewalt. Das „Spiel“ gerät außer Kontrolle: Es ist nicht länger ein Rätsel, welches der Lehrer seinem Schüler stellt, um ihn nach möglichen Gründen für die Existenz der Lehre suchen zu lassen, sondern ein Fall, der losgelöst von ursprünglichem Sinn und Zweck in einem grausamen Vorschlag mündet. Der „borderline case“ verselbständigt sich, er zieht ein halakhisches Konzept auf sich (die Ganzheit des toten Körpers), zu dessen Realisierung man einer Schwangeren auf den Unterleib schlagen müsste. Die Amoraim versuchen die Konsequenzen der Lesart Shmuels einzudämmen, zu ignorieren, sie lesen Shmuels Einwurf weiter und weiter, als ginge es ihm um die Inszenierung einer juridischen Idee (der Abhängigkeit des Fetus von seiner Mutter) und nicht um eine „Anleitung“ zur Durchführung einer Hinrichtung. Jedoch endet die Diskussion der Rabbinen in einem Widerspruch, dessen Auflösung so derartig provoziert scheint, als wollen sie einen Leser dazu zwingen, zu sehen, wohin diese Mishnah führen kann, wenn man die abstrakte Lesart, wie Shmuel, verlässt. Shmuels Vorschlag ließe sich dann nicht mehr als „Handlungsanweisung“, sondern als eine rhetorische Frage verstehen: „Wird eine Frau zur Hinrichtung hinausgeführt – so versetze man ihr einen Schlag gegen die Schwangerschaftsstelle, damit das Kind zuerst sterbe, damit nicht eine Beschämung über sie komme?! Der Fall, mit dem ihr spielt, endet, wenn in die Realität übertragen, in einem Desaster: auf ihn müsste man ein halakhisches Konzept anwenden, zu dessen Realisierung man einer Schwangeren auf den Unterleib schlagen muss!“ Shmuels Vorschlag lässt die Mishnah „explodieren“, sie wird grotesk und absurd. Wenn Shmuel die Mishnah aus dem Beit ha’Midrash hinauszieht und sie in einen „realen“ Kontext versetzt, zeigt er, dass das Benutzen des Szenarios einer Hinrichtung zur Konstruktion eines „borderline cases“ nur bedingt und eingeschränkt funktioniert: Nur, wenn man die Hinrichtung als eine mathematische Gleichung konzeptualisiert, die sich auf einem Blatt Papier darstellen lässt, kann sie einen Zusammenprall juridischer Prinzipien illustrieren. Sobald man die Mishnah jedoch aus diesem abstrakten, zweidimensionalen Raum zieht, wird aus ihr ein nicht mehr einzufangendes Ungetüm: Für sie würden halakhische Prinzipien gelten, die die Grenzen des „borderline case“ sprengen.

Shmuels Vorschlag, eine logische Konsequenz seiner Lesart, scheint nicht nur absurd, er widerspricht indirekt auch der zweiten Tradition, die die Gemara in seinem Namen überliefert: Wenn Shmuel mit dem Argument, der Fetus sei potentielles Leben, die Entweihung des Shabbats anordnet, müsste dann nicht auch der Fetus der Verurteilten als eine potentielle nefesh geschützt werden? Zwischen den Anweisungen, den Fetus einer während der Geburt verstorbenen Frau zu retten und eine Hinrichtung nicht zu verzögern, besteht zwar insofern kein Widerspruch, als dass in ersterem Fall (der schweren Geburt) der Fetus seine vollkommene legale Abhängigkeit bereits verloren hat. Die Geburt hat begonnen und auch die Hinrichtung würde nun verzögert werden. Wenn aber das Potential zu leben das entscheidende Kriterium ist, welches die Entweihung des Shabbats rechtfertigt, warum kann dasselbe Potential dann nicht auch die Verzögerung der Hinrichtung rechtfertigen? Die Wahrscheinlichkeit, dass der Fetus einer Verurteilten zu einer nefesh wird, scheint höher, als die Wahrscheinlichkeit, dass der Fetus einer verstorbenen Frau die Geburt überlebt und zu einer nefesh wird. Und wenn selbst der Fetus der am Shabbat verstorbenen Frau eine potentielle nefesh ist, um wie viel mehr müsste dann auch jeder andere Fetus, einschließlich der Fetus einer zum Tode verurteilten Frau, als eine potentielle nefesh gelten? Weiter, wenn das Potential zu leben sogar den Shabbat verdrängt, um wie viel mehr müsste dieses Potential dann auch eine Hinrichtung verzögern können?

Vielleicht ahnten die Rabbinen, dass die Aussage Shmuels als ein Versuch gelesen werden kann, die Mishnah ad absurdum zu führen (unabhängig davon, ob dies tatsächlich Shmuels Anliegen war). In anderen Worten: Vielleicht ignorieren sie taktisch die Lesart Shmuels, weil sie genau wissen, dass diese die Grenzen der abstrakten Benutzung eines Falles anzeigt. Die so dichte Zusammenstellung der Argumente und Widersprüche der Sugyah in bArakhin 7a-b, ihr abruptes, offenes Ende wären dann nicht „zufällig“, sondern würden zum einen die Absurdität dieser Mishnah entblößen und zum anderen auch die unterschiedlichen Auffassungen über den juridischen Status eines Fetus widerspiegeln. Ob die Redaktoren der Gemara jedoch einen solchen Effekt ihrer Arbeit intendierten, ob Shmuel seinen Vorschlag tatsächlich als eine rhetorische Frage gestellt hat, bleibt letztlich offen. Diese Deutung ist möglich, aber sie ist unmöglich zu beweisen, da der Ton seiner Aussage nicht rekonstruiert werden kann: Ob auf seinen Einwurf ein Ausrufezeichen oder ein Fragezeichen folgt, bleibt dunkel, obgleich eine Antwort auf diese Frage entscheidet, welches Licht die Rabbinen der Gemara auf die Mishnah werfen. Der Ton seiner Worte und damit einhergehend, die Deutung der Diskussion in bArakhin 7a-b bleibt der Fantasie ihrer Leser überlassen. Fest steht jedoch, dass die Mishnah mArakhin 1.4 (vielleicht absichtlich) der Kontrolle der Rabbinen entgleitet; ihre Diskussion in einem Widerspruch endet, dessen provozierte Auflösung die vorangegangene Interpretation zerbricht.

IV. Interpretationen moderner Autoren

Die Interpretation moderner Autoren zu dieser Mishnah und Gemara weicht von der hier Vorgeschlagenen ab. Folgt man den akademischen Talmudisten, statuieren die Tannaim die sofortige Hinrichtung einer zum Tode verurteilten Schwangeren – kurz gefasst – aus Rücksicht auf die Interessen der Verurteilten. Die Annahme, die unverzögerten Hinrichtung motiviere Rücksicht auf das Leiden der Verurteilten, scheint zu einer Art Konvention geworden zu sein, denn abgesehen von Ephraim Urbach [35] folgen ihr sämtliche moderne Autoren. So schreibt zum Beispiel Victor Aptowitzer, 1924:

“Politics, it is true, would demand for the opposite, for it subordinates the welfare of the individual to the interest of the state; ethics, however, protect the individual in the first case. Politics knows subjects of state, wheels of a machine. To ethics the state is a union of men. To politics the condemned mother is part of a machine rendered useless, but her expected child is a freshly wrought screw; the former is cast to the heap of old iron, the latter is guarded carefully. To ethics, however, the condemned mother is still a woman having claim to forbearance. Hence, the politically motivated laws by the Egyptians, Greeks and Romans refused to admit the execution of a pregnant woman; while the ethically motivated law of the Jews prescribes it.” [36]

Aptowitzer folgend, resümiert auch Fred Rosner, 1968:

“One may conclude from this Mishnah that one does not delay the execution of the mother in order to save the life of the fetus because we wish to avoid causing grief to the mother.“ [37]

J. David Bleich (1968):

“Considered as a rabbinic edict, it is understandable that the Rabbis suspended their ban in order to mitigate the agony of the condemned woman, giving considerations of her welfare priority over the well-being of the unborn child.” [38]

Daniel M. Feldman (1974):

“The law of Israel , just as it requires that the foetus be sacrificed to save the mother’s physical life, likewise requires that it be sacrificed to save her spirit from torture and suffering. And there is suffering, we may at least assume, for a woman who must daily await her execution.” [39]

Rachel Biale (1984):

“On the one hand, we have a seemingly heartless, technical discussion of the execution of a pregnant woman and the destruction of her fetus. It seems extremely cruel to the woman who cannot give birth to her child and to the fetus which is not given a chance to be born and live its own life. On the other hand, the consideration is in fact compassion and concern for the woman, who has been doomed.” [40]

Daniel Schiff (2002)

“The Gemara to Massekhet Arakhin conveys a number of important insights that serve to underscore the elevated status of the condemned mother in this case. First, the observation is made, that were it not for this mishna’s explicit demand for her death, the mother would in fact not have been subject to execution, because based on the payment requirement set forth in Exodus 21.22-25, the fetus is the husband’s property “of which he should not be deprived”. Hence, not only does this mishnah set the condemned woman’s interests over those of her fetus, but over those of her husband. […] The Tannaitic ruling goes uncontested: the fetus ought to be killed because the interests of the mother in a swift and “dignified” death far outweigh any consideration due to the unborn.” [41]

Diese Interpretation ist mit der in dieser Arbeit vorgeschlagenen Lesart von mArakhin 1.4 offensichtlich nicht vereinbar. Nimmt man an, dass die Rabbinen diese Mishnah auf Grund ihrer Sorge um einen „dignified death“ lehren, dann lässt sich nicht gleichzeitig annehmen, dass sie diese Mishnah ihres pädagogischen Wertes wegen konstruieren. Die Amoraim lesen sie, wie oben aufgezeigt, als einen „borderline case“, der die Kollision zweier juridischer Prinzipien und die Priorität des Einen illustriert. Weil die zitierten Interpretationen so weit von der hier Dargestellten abweichen, wird im Folgenden gezeigt, warum sich den Rabbinen hier kein Wohlwollen unterstellen lässt.

1. Zum Teil explizit berufen sich die Kommentatoren, die hinter mArakhin 1.4 ein ethisches Prinzip vermuten, darauf, dass gemäß den Rabbinen die Vollstreckung eines Gerichtsurteils nicht verzögert werden darf: [42] Das Hinauszögern einer Vollstreckung ist eine „Rechtsquälerei“ (עינוי הדין), die das Leiden des Verurteilten zusätzlich in die Länge ziehen würde; in den Worten der Mishnah (mAvot 5.7): „Das Schwert kommt über die Welt wegen der Rechtsquälerei, der Rechtsbeugung und wegen derer, die die Torah falsch deuten.“ [43] Theoretisch ließe sich auch in Bezug auf mArakhin 1.4 argumentieren, dass hier die Vermeidung einer innui ha-din, einer Rechtsquälerei, der Rechtssprechung unterliegt: Mit der Forderung nach einer unverzögerten Hinrichtung der Schwangeren würden die Rabbinen demgemäß zum Ausdruck bringen, dass ein zusätzliches Leiden der Schwangeren um jeden Preis, auch entgegen den Rechten eines Ehemannes, zu vermeiden ist.

Logisch widerspricht diese Argumentation der Mishnah nicht grundsätzlich. Allerdings müsste man, wenn man sie übernimmt, annehmen, dass die Rabbinen von der Hinrichtung um ihrer selbst willen lehren, dass sie hier bestimmte Anweisungen zu diesem bestimmten Kasus – der schwangeren Verurteilten – geben. Dies ließe sich auf Ebene der Mishnah vielleicht noch annehmen, spätestens mit den Amoraim/Stamaim aber wird deutlich, das sie mArakhin 1.4 als einen Fall lesen, der eines theoretischen Interesses wegen konstruiert wurde: Den Rabbinen der Gemara zufolge lehren die Tannaim von der Hinrichtung der Schwangeren, weil ihr Fall gemäß zweier Prinzipien – der Rechtseinheit von Mutter und Fetus und den Rechten eines Ehemannes – gerichtet werden kann. Folgt man dieser tamudischen Lesart, dann demonstrieren die Tannaim mit dieser Lehre also die Priorität eines juridischen Prinzips – gufa hi –, nicht aber die „ethisch angemessene“ Vollstreckung einer Hinrichtung.

2. Innui ha-din und gufa hi sind zwei prinzipiell und grundsätzlich unterschiedliche Prinzipien: das Verbot der „Rechtsquälerei“ beruht auf einer ethischen Überlegung, der Vermeidung von zusätzlichem Leiden, während die Kategorisierung einer Schwangeren und ihres Fetus als „einem Rechtskörper“ mit ethischen Motivationen in keinem Zusammenhang steht. Die jeweiligen Konsequenzen dieser beiden Prinzipien schließen sich zwar nicht unbedingt gegenseitig aus – möglicherweise mildert der Effekt von gufa hi (die unverzögerte Hinrichtung) das Leiden der Verurteilten – jedoch lässt sich von einem eventuell identischen Effekt nicht auf ein identisches Motiv schließen. [44] Es besteht kein Kausalzusammenhang zwischen „Wenn gufa hi, dann muss eine verurteilte Schwangere sofort hingerichtet werden“ und „Eine verurteilte Schwangere muss sofort hingerichtet werden, damit sie nicht zusätzlich leidet“ („Wenn x, dann y“ bedeutet nicht „y, damit z“ – eine ethische Sinngebung der Gleichung „wenn x, dann y“ schwebt in einem Raum jenseits logischer Notwendigkeiten). Entweder wird die Hinrichtung also nicht verzögert, weil auf diese Weise das Leiden der Verurteilten gelindert werden kann oder weil der Fetus ein Teil des mütterlichen Rechtskörpers ist. Entscheidet man sich dafür, dass die Vermeidung von Leiden diese Lehre motiviert, so muss man das gufa hi der Gemara gleichzeitig wohlwollend überlesen, also ignorieren. [45] (Möglich ist natürlich, dass die Intention der Rabbinen, die die Mishnah formulierten, sich von derjenigen ihrer Nachfolger unterschied. Diese Möglichkeit ist jedoch, zumindest an Hand rabbinischer Texte, nicht belegbar – nirgendwo wird angedeutet, dass die Tannaim die Hinrichtung der verurteilten Schwangeren ohne Verzögerung vollstrecken lassen, weil sie auf diese Weise meinen, ihr Leiden mildern zu können.)

3. Wie die Amoraim selbst feststellen, vernachlässigen die Rabbinen, wenn sie die sofortige Hinrichtung einer verurteilten Schwangeren statuieren, die mutmaßlichen Interessen eines Ehemannes an dem ungeborenen Kind. Aus diesem Umstand lässt sich jedoch nicht schließen, dass sie die Interessen der Verurteilten nicht ignorieren, dass die unverzögerte Hinrichtung also ihren Interessen entspricht! Noch einmal mathematisch ausgedrückt: Aus „y ungleich x“ (unverzögerte Hinrichtung ungleich Interessen des Ehemannes) folgt nicht notwendigerweise, dass “y gleich z“ (unverzögerte Hinrichtung gleichen Interessen der Verurteilten).

Das gleiche Argument ließe sich auch gegen Aptowitzer (und andere) einwenden, demzufolge den nicht-jüdischen Rechtssystemen [46] eine politisch-ökonomische und dem jüdischen Gesetz eine ethische Motivation unterliegt. Ein politisch-ökonomisches System lässt die Hinrichtung einer Schwangeren verzögern, damit der Staat den Fetus als eine „menschliche Ressource“ nicht verliert, in den Worten von Barilan: „Demographic attitudes tend to promote procreation, to proscribe abortion in general, but to encourage or even coerce abortion, neglect, and even the killing of “defected” babies whose presence is a burden to the nation.” [47] Die Rechtssprechung der Mishnah ist hier insofern unpolitisch, als dass sie bewusst auf das Leben einer potentiellen „nefesh in Israel“ [48] verzichtet. Sie räumt den Interessen des Staates an dieser Stelle keine Priorität ein. Nur weil aber gegen die Staatsräson entschieden wird, wird nicht automatisch aus einer „ethischen Motivationen“ heraus geurteilt; aus „gegen die Staatsräson“ lässt sich nicht schließen, dass hier die Interessen eines Individuums das Maß der Dinge sind. [49]

4. Ein Argument aus dem Kontext der Mishnah heraus: Im unmittelbaren Anschluss an die Lehre über die Hinrichtung statuiert die Mishnah, dass das Haar einer zum Tode verurteilten Frau nach ihrem Tod benutzt werden darf: „Ist eine Frau hingerichtet worden, so darf man ihr Haar nutznießen” (האשה שנהרגה נהנין בשערה). Die Amoraim diskutieren, warum dies so ist, denn schließlich gehört das Haar zum Körper und ist deshalb zur Nutznießung verboten! Ein Vorschlag von Rav führt die Erlaubnis darauf zurück, dass die Frau über ihr Haar verfügt hatte: „Wenn sie verfügt hat, dass man ihr Haar ihrer Tochter gebe“ (אמר רב: באומרת תנו שערי לבתי). Auf Ravs Vorschlag folgt die rhetorischen Frage: „Würde man denn, wenn sie verfügt hat, dass man ihre Hand ihrer Tochter gebe, sie ihr geben!? (אילו אמרה: תנו ידי לבתי, מי יהבינן לה) – Natürlich nicht! Ravs Vorschlag wird abgelehnt – eine Frau kann über einen Teil ihres Körpers, wie z.B. ihre Hand oder ihr Haar nicht verfügen. Dass man ihr Haar nach ihrem Tod trotzdem nutznießen darf, kann nicht auf ihre Verfügungsgewalt zurückgeführt werden. Nachdem nun die Möglichkeit in Betracht gezogen wird, Rav spreche eventuell von einer Perücke, kommen die Rabbinen schließlich zu dem Schluss, dass die Haare (wie der Fetus) zum Körper gehören, die Haare aber nur deshalb zur posthumen Nutzung erlaubt sind, weil sich der „Tod nicht auf die Haare erstreckt“. Genauso wie die Erlaubnis, ihr Haar zu benutzen, nicht bedeutet, dass sie über dieses verfügen kann, steht auch das Verbot den Fetus zu „nutzen“, nicht mit ihren Interessen in Zusammenhang.

5. Auch Shmuel kann nicht als Unterstützung für eine Interpretation herangezogen werden, die in der unverzögerten Hinrichtung der Schwangeren einen um die Vermeidung ihrer nivvul bemühten Akt sieht: Shmuel begründet mit den Worten „damit nicht eine Beschämung über sie komme“, dass der Fetus vor seiner Mutter zu töten ist, nicht aber, dass er überhaupt getötet wird. Shmuel stimmt mit der Mishnah und den anderen Rabbinen völlig darüber ein, dass die Hinrichtung deshalb nicht aufgeschoben wird, weil der Fetus ein abhängiger Teil des mütterlichen Rechtskörpers ist. Auch er hält das Prinzip gufa hi für schwerwiegender als die Interessen von Ehemann und Staat. Nur innerhalb dieses juridischen Rahmens wirft er ein, man müsse den Fetus schon vor der Hinrichtung töten, „damit nicht eine Beschämung über sie komme“.

6. Angenommen, dass die Hinrichtung nicht verzögert wird, „because we wish to avoid causing grief to the mother“, dann müsste theoretisch auch die Möglichkeit bestehen, aus demselben Grund ein Urteil erst nach der Geburt vollstrecken zu lassen. Ausschließlich die leidende Person, die Verurteilte selbst, kann schließlich beurteilen, welches Prozedere ihr Leiden mildern könnte – Leiden ist nicht von außen „messbar“. Die verurteilte Frau wird hier aber nicht nach ihrem Empfinden befragt. Nimmt man an, dass die Rabbinen mit dieser Mishnah einen „claim for forbearance“ [50] und „compassion and concern for the woman“ [51] ausdrücken, muss man gleichzeitig schließen, dass die Rabbinen (vor allem Shmuel) selbst entscheiden, wie das Leiden einer verurteilten Schwangeren zu lindern ist. Die Lehre in mArakhin 1.4 würde dann also nicht nur das Leiden einer verurteilten Schwangeren berücksichtigen, sondern den rabbinischen Anspruch darauf, die Art ihres Leidens eigenmächtig zu definieren. Die Tannaim wären die Richter, die auch die Rolle der Angeklagten beanspruchen – eine Personalunion, die der Angeklagten nicht unbedingt nützt, denn unter Umständen hat sie eine andere Vorstellung davon, wie „passion and concern“ ihr gegenüber zum Ausdruck gebracht werden könnten. Selbst wenn die Rabbinen mit dieser Rechtssprechung also beabsichtigen, zusätzliches Leiden zu vermeiden, ignorieren sie diejenige, die leidet. Die ethische Lesart, in ihrem Versuch die Gewalt dieser Mishnah umzukippen, untergräbt damit unbeabsichtigt und nebenbei sich selbst: mArakhin 1.4 als einen Ausdruck von Güte gegenüber der Verurteilten zu lesen, bedeutet zu vergessen, dass die Verurteilte keinerlei Zugriff oder Einfluss auf die auf sie ausgeübte „Güte“ hat. [52]

Das Beharren darauf, dass die Rabbinen die sofortige Exekution der Verurteilten aus Einfühlsamkeit mit der Verurteilten statuieren, offenbart vor allen Dingen, dass diese Lehre bei ihren späteren Lesern Unbehagen hinterließ. Nicht die Rabbinen, sondern die Kommentatoren in den wissenschaftlichen Akademien sind „wohlwollende Schüler“, „wohlwollend“ insofern, als dass ihnen die Lehre von der Hinrichtung der schwangeren Frau alles andere als „Pshita“ erschien. Die daraus resultierenden interpretatorischen Rettungsversuche entsprechen allerdings nicht der Art und Weise, in der die Rabbinen der Gemara selbst diese Mishnah lesen: Diese sehen in ihr weder Rücksicht auf das Leiden der Verurteilten repräsentiert, noch streben sie an, dieses zu definieren. Für sie ist die Hinrichtung die Visualisierung eines Zusammenstoßes zweier juridischer Prinzipien und dient einem „pädagogischen“ Ziel, der Identifizierung der beiden Prinzipien.

Die rabbinische Interpretation von Exodus 21:22-24 in der Mishnah und der Gemara des Traktats Arakhin zeigen damit, dass die ethischen Implikationen des biblischen Falles für die Rabbinen zumindest in den hier besprochenen talmudischen Texten nicht im Zentrum der Diskussion standen: Es entsteht kein Dialog darüber, inwieweit der Fetus tatsächlich als ein integraler Bestandteil des Rechtskörpers der Frau anzusehen ist, es werden weder Ausnahmen, noch eingrenzende Bedingungen des Grundsatzes ‘der Fetus ist ein Glied seiner Mutter’ (ubar yerekh imo) diskutiert. Der biblische Fall wird jenseits seiner ethischen Implikationen in ein pädagogisches Lehrstück verwandelt. Der unaufgelöste Widerspruch, mit dem die Diskussion endet, kann als ein Spannungsmoment gegenüber einer solchen Benutzung des Falles gedeutet werden, jedoch ist dies an Hand des talmudischen Textes nicht zu beweisen.

 

Bibliographie

Alexander, Elizabeth Shanks, Transmitting Mishna. The Shaping Influence of Oral Tradition, Cambridge 2006.

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[1] Siehe Rashi zu Ex 21.22, „Aber es ist keine Lebensgefahr – für die Frau“ (ולא יהיה אסון – באשה). Rashi folgt hier der Mekhilta de’ Rabbi Yishmael, Parashat Mishpatim, Massekhet Nezikin, Kap. 8: ולא יהיה אסון – באשה.

[2] Siehe dazu mNiddah 5.3, „Ein einen Tag alter Knabe […], wer ihn tötet, ist schuldig, und er gilt für seinen Vater, seine Mutter und all seine Verwandten als ein reifer Mann.“ In der Gemara zu dieser Mishnah, in bNiddah 44b, wird erklärt: „Wer ihn tötet, ist schuldig. Denn es heißt wenn jemand eine Seele [nefesh adam] erschlägt (Leviticus 24.17), wer sie auch ist.“ Ein einen Tag altes Kind ist demnach, im Gegensatz zu einem Fetus, eine „nefesh adam“: wer es tötet, ist des Mordes schuldig. Siehe dazu Schiff, Abortion in Judaism, S. 28-29.

[3] Urbach, The Sages, S. 214, zur Bedeutung des Wortes “nefesh” in der Bibel: „The term nefesh is not to be understood in the sense of psyche, anima. The whole man is a living soul. The creation of man constitutes a single act. The nefesh is in actuality the living man, and hence nefesh is also used in place of the word אדם [‘man’].”

[4] Die genaue Bedeutung dieser Strafe ist unter den Rabbinen umstritten: Siehe zum Beispiel bSanhedrin 79ab: „Wie aber erklärt Rabbi Shimon [die Worte]: So soll es geben Leben um Leben (Exodus 21.23)? Eine Geldentschädigung, und zwar nach Rabbi, denn es wird gelehrt: Rabbi sagte: So soll es geben Leben um Leben, eine Geldentschädigung. Du sagst, eine Geldentschädigung, vielleicht ist dem nicht so, sondern das wirkliche Leben. Hier unten (Wenn eine Sühne ihm auferlegt wird, so gibt er die Lösung seiner Person, alles wie es ihm auferlegt worden, Exodus 21.39) heißt es geben (השיתה) und ebenso heißt es oben (in Exodus 21.22) geben (השיתה) – wie oben eine Geldentschädigung, so auch hier eine Geldentschädigung.“ Siehe ebenso bSanhedrin 87b, bHagigah 11a und Mekhilta de’ Rabbi Yishamel, Parashat Mishpatim, Massekhet Nezikin, Kap. 8. Auch unter den Tosafot herrscht kein Konsensus hinsichtlich des Strafmaßes für einen unbeabsichtigt verursachten Tod. Rashi erklärt zu bSanhedrin 79a: „So gib ihm Leben um Leben (Exodus 21.23). Unsere Lehrer sind darüber verschiedener Ansicht, manche sagen wörtlich ‚Leben’, und manche sagen ‚Geld’ und nicht wörtlich ‚Leben’ […].“ Zu der Entwicklung der Halakha in nach-talmudischer Zeit und den wissenschaftlichen Kontroversen um die „ursprüngliche“ biblische Bedeutung der Formulierung nefesh tachat nefesh siehe Schiff, Abortion in Judaism, S. 31 und S. 7ff.

Dass beide Interpretationen meist Seite an Seite nebeneinander stehen, deutet vielleicht auf ein juridisches Dilemma hin: Weil dem Leben ein höherer, nicht durch materielle Mittel zu kompensierender Wert zukommt, kann der Verlust von Leben nicht gleich einem Sachschaden durch eine Geldbuße gesühnt werden. Jedoch impliziert die Todesstrafe den Verlust eines weiteren Lebens und weiter, kann der unbeabsichtigt verursachte Tod einer nefesh nicht das beabsichtigte Töten einer weiteren nefesh rechtfertigen. Folglich ist eine finanzielle Sühne das angemessene Strafmaß – wenn aber Leben nicht durch Geld kompensiert werden kann – die Argumentation beginnt dort, wo sie begonnen hat. Weder die Todesstrafe noch eine Geldbuße ist die „angemessene“ Sühne für das unbeabsichtigte Verursachen des Todes eines Menschen.

[5] Vgl. Biale, Women and the Jewish Law, S. 220, „Destroying it [the fetus] through causing an abortion is not a capital crime and carries no capital punishment. Rather it is a crime of causing loss and destruction, similar to property damage. The damage is inflicted on the husband, not on the pregnant woman, since he loses his progeny. Why is it the husband, who suffers the loss of progeny, and not the woman? Because in biblical law, while the woman herself is not quite the property of her husband (harming her is capital crime and not a crime against property), any of her products, whether through work or through pregnancy, are the property of her husband.”

[6] Mekhilta de’ Rabbi Yishmael, Parashat Mishpatim, Massekhet Nezikin, Kap. 8, ed. Winter/Wünsche S. 265. Rashi erklärt zu ‚So werde er am Gelde gebüßt’ (Exodus 21.23), dass sich die Höhe der Zahlung ermitteln lässt, indem man „[den Wert der Frau] abschätzt, wie viel sie wert ist auf dem Markt verkauft zu werden, und erhöht ihren Wert, weil sie eine werdende Mutter ist.“ Die Rabbinen diskutieren die Art und Weise, in der die Höhe der Sühnezahlung zu evaluieren ist, nicht.

[7] Die Abkürzungen für die Schriften rabbinischer Literatur sind: ein „b“ für Babylonischer Talmud, ein „y“ für den Yerushalmi, den Jerusalemer Talmud, ein „m“ für die Mishnah und ein „t“ für die Tosefta.

[8] Das Recht, Todesurteile zu fällen (das jus gladiis, „Recht des Schwerts“) stand ausschließlich römischen Gerichten zu. Dazu siehe Börner-Klein, Sifre Zuta, S. 175-176.

[9] Siehe bSanhedrin 41ab, „Ferner wird gelehrt: Vierzig Jahre vor der Zerstörung des Tempels siedelte das Synhedrium nach der Kaufhalle über, und hierzu sagte Rabbi Yitzhaq bar Avudimi, dies besage, dass sie in Bußgeldsachen nicht mehr gerichtet haben. In Bußgeldsachen, wie kommst du darauf?! Sage vielmehr, dass sie in Todesstrafsachen nicht mehr gerichtet haben.“ Ebenso bKetubbot 30a-b.

[10] Dass diese Mishnah keine praktische Bedeutung hatte, wird heute seitens wissenschaftlicher Literatur fast einstimmig angenommen. Siehe Bleich, “Abortion in Halakhic Literature”, S. 103; Biale, Women and the Jewish Law, S. 225; Feldman, Marital Relations, S. 289; Schiff, Abortion in Judaism, 2002, S. 38, Anm. 42. Dafür, dass die Rabbinen Todesurteile aus einem theoretischem Interesse heraus diskutieren, spricht auch, dass in bSanhedrin 51b das Studium der Vorschriften zu Todesurteilen mit dem der Opfergesetze verglichen wird. Dagegen siehe Segal, “Jewish Law During the Tannaitic Period”, S. 103, „However, both the sources of Jewish law and external evidence indicate that capital crimes did fall under the jurisdiction of the Jewish courts both before and after the destruction of the Temple.” So oder so scheinen die Rabbinen Todesurteilen skeptisch gegenüber zu stehen: In mMakkot 1.10 wird ein Gerichtshof, der „einmal in einem Septennium“ (nach Rabbi Eliezer ben Azarja einer, der einmal in siebzig Jahren) eine Hinrichtung vollstreckt, ein „Verderbenbringender“ (חובלנית) genannt. Rabbi Triphon und Rabbi Aqiva berichten daraufhin: „Wenn wir im Synhedrium säßen, würde nie ein Mensch hingerichtet worden sein.“ Hauptman, Rereading the Rabbis, S. 15, vermutet, dass die Aversion der Rabbinen gegenüber Todesstrafen mit der Furcht, eine unschuldige Person zu töten, begründet werden kann.

[11] Siehe auch Rashi: „So warte man nicht, bis sie geboren hat – sondern tötet ihr Kind mit ihr, weil sie ein Körper sind“ (אין ממתינין לה עד שתלד, אלא הורגין ולדה עמה דחד גופא הוא)

[12] Siehe auch Rashi: „So warte man damit, bis sie geboren hat – wenn es sich von seinem Platz loslöst und bewegt, ist es ein anderer Körper“ (ממתינין לה עד שתלד – דכיון דעקר ונע ממקומו גופא אחרינא הוא). Die Ausdrücke „anderer Körper“ und „ein Körper“ gehen auf die Gemara zu mArakhin 1.4, bArakhin 7a zurück.

[13] Dazu siehe Alexander, Transmitting Mishna, S. 131.

[14] Alexander, Transmitting Mishna, S. 140, „The Mishnah’s occasional tendency to articulate a general principle explicitly suggests, that even in the many casuistic formulations where no general principle is stated, one is implied. Insofar as the Mishnah generally employs the casuistic form without an explicit statement of general principle, it leaves that work of inference to its students, audience or readers.” Auch das in mArakhin 1.4 illustrierte Prinzip beansprucht allgemeine Übertragbarkeit: Jeder Fetus gilt als ein abhängiger Teil des mütterlichen Rechtskörpers. Das demonstrierte Prinzip reicht über die Grenzen des speziellen Kasus hinaus, weshalb mArakhin 1.4 auch als ein „paradigmatic case“ (Davis, „Abortion in Jewish Thought“, S. 315) oder ein „narrative precedent“ (Feldman, Marital Relations, S. 289) bezeichnet wird.

[15] In Quellen, die der Talmud tannaitischen und frühen amoräischen Generationen zuschreibt, wird die Formulierung noch nicht benutzt. Sie ist eine amoräische Erfindung, die Idee aber natürlich keine amoräische Innovation. Meistens taucht diese Formulierung als ein anonymes Kommentar auf; an einigen Stellen wird sie jedoch auch unterschiedlichen Rabbinen zugeschrieben, z.B. wird in bGittin 23b Rabbi als Urheber des ubar yerekh imo genannt. Der Ausdruck hat eine lateinischen Entsprechung, „pars viscerum matris“.

[16] Siehe bTemurah 30b.

[17] Siehe bBava Qama 78b.

[18] Siehe bSanhedrin 80b.

[19] Schiff und Feldman zufolge verwenden die Rabbinen ein ubar yerekh imo immer dann, wenn der Wechsel des legalen Status einer Schwangeren auch das ungeborene Kind einschließt, nicht aber in „life-and-death-situations“ (Siehe Schiff, Abortion in Judaism, S. 32 und Feldman, Marital Relations, S. 253). In bArakhin 7a jedoch statuieren die Rabbinen die unverzögerte Hinrichtung der verurteilten Schwangeren, weil sie den Fetus dem Rechtskörper der verurteilten Mutter unterordnen. Sie benutzen hier zwar nicht explizit die Formulierung ubar yerekh imo (sondern gufa hi), jedoch stellt Feldman selbst fest (ibid., S. 265), dass „the foetus in an earlier stage is regarded as gufah hu (part of ’her body’), which is a more definitive variation of the yerekh imo principle above” und (ibid., S. 253), „The designation [ubar yerekh imo] defines ownership“. Wenn die unverzögerte Hinrichtung also mit gufa hi begründet wird, dann wird ubar yerekh imo offensichtlich doch (wenn auch nur implizit und theoretisch) in einer „life-and-death-situation“ angewendet.

[20] Abgesehen von Rabbi Johanan, wird auch von Rabbi Eleazar berichtet, er sei der Ansicht, der Fetus sei kein Glied seiner Mutter (siehe bTemurah 19a). Diese Passage veranlasst Schiff dazu, anzunehmen, dass eventuell bereits ein Tanna – Rabbi Eleazar – einen Fetus für kein Glied seiner Mutter hielt. Schiff, Abortion in Judaism, S. 44. Die juridische Abhängigkeit des Fetus von seiner Mutter bleibt jedoch das die Halakha bestimmende Prinzip (siehe Schiff, ibid. S. 44 und Urbach, The Sages, S. 245. Dementsprechend wird ein ubar lo yerekh imo auch meist dicht gefolgt von einem anonymen ubar yerekh imo in den Text gewoben.

[21] Explizit wird auch in bGittin 23b erklärt, dass eine schwangere Sklavin für ihr Kind eine Freiheitsurkunde in Empfang nehmen darf, weil der Fetus als eines ihrer Glieder gilt: „Ein Sklave ist als Vertreter zum Empfange eines Scheidebriefes aus der Hand des Ehemannes ungültig, weil er [im Gesetz] von Scheidung und Ehelichung nicht begriffen ist. Obgleich wir gelernt haben, dass, [wenn jemand zu seiner Sklavin gesagt hat] du sollst Sklavin bleiben, dein Kind aber soll frei sein, sie, wenn sie schwanger ist, [die Freiheit] für dieses erlangte habe?!“ Der Widerspruch wird wie folgt aufgelöst: „Einer sagte, hier ist die Ansicht Rabbis vertreten, welcher sagt, wenn jemand die Hälfte seines Sklaven freilässt, erlange er sie, und einer erklärte den Grund Rabbis, weil er der Ansicht ist, das Kind gelte als Glied der Mutter, somit ist es ebenso, als würde er ihr eines von ihren Gliedern zugeeignet haben.“ Siehe ebenso yQiddushin 1.3 (60a).

[22] Hayes, Between the Babylonian and the Palestinian Talmuds, S. 93, “The amoraim assume that the Mishnah will not waste words by repeating itself. They analyze apparent redundancies, glosses, paraphrases, and recapitulations in order to demonstrate that in fact they do convey some new piece of information, some hiddush. The amoraim rarely concede that one phrase of the Mishnah is a gloss or a reformulation of another but insist that each phrase is necessary (צריכא, tserikha, “it is necessary”) in order to preclude some plausible but erroneous alternative – a havah amina (הוה אמינא).”

[23] Die Gemara fährt hier wie folgt fort: „Vielleicht ist dem auch so!? Rabbi Abahu erwiderte im Namen Rabbi Johanans: Die Schrift sagt: Sie sollen auch beide sterben (Deuteronomium 22.22), dies schließt die Geburt ein. Dies deutet ja auf [die Lehre]: Sie müssen beide gleich sein – so Rabbi Joshija!? Ich entnehme es aus [dem Worte] auch.“ Das „Vielleicht ist dem auch so!?“ wird widerlegt und ändert daher nicht den Argumentationsstrang. Um diesen nicht zu sehr zu verästeln, zitiere ich diesen Einschub hier in einer Fußnote, und nicht im Fließtext.

[24] Dazu siehe Alexander, Transmitting Mishna, S. 155 und S. 189, „Borderline cases are those for which two equally plausible resolutions exist. Since the Mishnah usually presents one ruling per case, the Bavli needs to imaginatively (re)construct a second plausible ruling in order for the case to be understood as borderline.“

[25] Die Formula “man könnte glauben, dass” (ס"ד אמינא), mit der das unterlegene Prinzip eingeleitet wird - der Anspruch des Ehemannes auf den Fetus - zeigt an, dass es theoretisch genauso wie das dominante Prinzip „gufa hi“, die Mishnah bestimmen könnte. Siehe dazu Hayes, 1997, S. 94, above, n. 21, and also S. 116: “The dialectical treatment of traditions – in both study and redaction – has its roots in the hermeneutical presupposition described in Chapter 3: the view, that traditions are always formulated in a precise manner so as to preclude a plausible but erroneous alternative (a הוה אמינא). The dialectical method proceeds from this view in that it seeks to justify the existence of a specific formulation of a teaching by articulating a hava amina that the teaching is designed to preclude. For it is a short journey from the idea that a teaching occurs in order to preclude an alternative but erroneous opinion to the conviction that a teaching is fully validated only when its alternatives have been considered and invalidated, when its hava aminas have been articulated and set aside.” Siehe dazu auch Alexander, Transmitting Mishna, S. 198.

[26] Siehe dazu Alexander, Transmitting Mishna, S. 199: „The major analytic task that faces the interpreter who wishes to justify the mishnaic text by reading it as a borderline case is the construction of a plausible alternative ruling. Since the Mishnah has already presented and legitimated one ruling, creativity is required to rationalize a second, different ruling. [...] Once the gemara finds a way to represent an alternative ruling as plausible, it asserts that the value of the mishnaic case lies in the fact that it rejects this perfectly reasonable conclusion.“

[27] Alexander, S. 150, „The Mishnah’s interest in situations that fall in between clear-cut legal categories leads it to construct the most bizarre cases, which bring ’diverse legal principles into juxtaposition and conflict’”. Alexander zitiert hier Neusner, Judasim: The Evidence of the Mishnah, S. 257.

[28] In Sifre Zuta, Be’Midbar 35.22, wird eben dies überlegt: „Ich hätte denken können, dass wenn sie schwanger ist, man die Hinrichtung verzögert bis sie geboren hat. Deshalb lehrt uns die Schrift: Wer einen Menschen schlägt und er stirbt, soll des Todes sterben (Ex 21.12).”

[29] Wortwörtlich „Haus der Schwangerschaft“ (בית הריון).

[30] Für das von Goldschmidt mit „Hässlichkeit“ übersetzte Wort nivvul gibt Sokoloff, Dictionary, S. 735, drei Bedeutungen an: „to disgrace“ (bQiddushin 12b, bBava Bathra 135a), „to make repulsive“ (bSotah 8b) und „to disfigure“ (bHullin 11b). Ebenso Jastrow, Dictionary, S. 884-885, „to be disfigured, look repulsive, degenerate.” Im talmudischen Sprachgebrauch wird zwischen einer physischen Verunstaltung und einer psychischen Beschämung nicht unterschieden. Zum Gebrauch des Wortes nivvul im Talmud siehe auch Rosen-Zvi, The Ritual of Suspected Adulteress (Sotah) in Tannaitic Literature, S. 99ff.

[31] Siehe auch Rashi: „Damit nicht eine Beschämung über sie komme – wenn es Leben im Kind gab und es nach dem Tod seiner Mutter herauskommt, ist dies eine Beschämung” (לידי ניוול – שאם יהא חיות בולד ויצא לאחר מיתת אמו ניוול הוא).

[32] Siehe bMoed Qatan 27b.

[33] Siehe Rashi: „Einst ereignete es sich ja aber, dass sie bis drei Zuckungen zuckte – nach dem Tod der Mutter.“ (לאחר מיתת אמו – והא הוה עובדא ופרכיס). Die Idee, das Zucken des Eidechsenschwanzes nach dem Tod der Eidechse sei kein Zeichen von Leben, taucht auch in einer Parallele in bNiddah 44ab (zu mNiddah 5.3) auf.

[34] Siehe dazu tShabbat 15.11.

[35] Urbach, The Sages, S. 243, liest mArakhin 1.4 als eine Konsequenz der rabbinischen Kategorisierung des Fetus als ein von der Mutter abhängiger Teil ohne hier eine ethische Motivation zu vermuten: “Among the Tannaim we do not find anyone who upholds, in the field of Halakha, the view that the embryo, while still in its mother’s womb, is a separate body, and regards it as an independent living being […]. Thus, ‘If a woman is due to be executed, we do not wait for her to give birth, but if she was (already) sitting on the birthstool, we wait for her to give birth’.”

[36] Aptowitzer, “Observations on the Criminal Law of the Jews”, S. 99, eigene Kursivsetzung.

[37] Rosner, “The Jewish Attitude Toward Abortion”, S. 56, eigene Kursivsetzung.

[38] Bleich, “Abortion in Halakhic Literature”, S. 76, eigene Kursivsetzung.

[39] Feldman, Marital Relations, S. 290.

[40] Biale, Women and the Jewish Law, S. 225, eigene Kursivsetzung.

[41] Schiff, Abortion in Judaism, S. 39.

[42] Siehe auch mSanhedrin 11.4.

[43] Ebenso bShabbat 33a.

[44] Ein Beispiel: Wenn ein Fall wie „wenn Elefanten Flügel hätten, könnten sie fliegen“ nach einem bestimmten Prinzip – „Alles, was Flügel hat, kann fliegen“ – konstruiert wird, ist daraus überhaupt nicht logisch zu folgern, dass Elefanten Flügel haben sollten, damit sie den Vögeln gegenüber nicht benachteiligt sind.

[45] Wenn angenommen wird, dass die Rabbinen mit der unverzögerten Hinrichtung „passion and concern“ ausdrücken und außerdem, dass die Mishnah in den Gefilden der Theorie anzusiedeln ist, muss konsequenterweise auch geschlossen werden, dass die Rabbinen hier „theoretical passion and concern“ walten lassen?!

[46] In griechischem Recht ändert sich der legale Status eines Fetus mit den Monaten der Schwangerschaft, in römischem Recht wird ein Embryo als ein von seiner Mutter abhängiger Teil betrachtet. Siehe Urbach, The Sages, S. 794, Anm. 93 und 1; Feldman, Marital Relations, S. 253.

[47] Barilan, “Abortion in Jewish Religious Law”, S. 11.

[48] Rabbi Ben-Zion Meir Hai Uziel, zitiert in Biale, Women and the Jewish Law, S. 234, 235.

[49] Zwar lässt sich mArakhin 1.4 einem politisch-ökonomisch motivierten Gesetz entgegensetzen, jedoch lässt die Halakha politische oder ökonomische Erwägungen in Bezug auf die „Bevölkerungspolitik“ nicht außer Acht: Demographische Überlegungen sind zum Beispiel präsent, wenn die Rabbinen definieren, wann ein Mann die „Pru ve’rabu-Mitzva“ erfüllt hat: Diese Mitzvah besteht aus einer biblischen und zwei talmudischen Komponenten. Die biblische Komponente wird von der Mishnah als „ein Sohn und eine Tochter“ definiert. Die beiden zusätzlichen, talmudischen Komponenten dieser Mitzvah sind „la-shevet“ und „la-erev“: la-shevet, abgeleitet aus Jesaja 45.18, bedeutet, dass die Mitzvah nur dann erfüllt ist, wenn die Kinder selber Nachkommen zeugen. La-erev, abgeleitet aus Qohelet 11.6, bedeutet, dass ein Paar so viele Kinder wie möglich zeugen sollte, um die Chancen auf Nachkommen damit möglichst zu vergrößern. Siehe dazu Feldman, Marital Relations, S. 48-51. Demographische Überlegungen tauchen auch in der aktuellen Debatte um Schwangerschaftsabbrüche auf. So schreibt z.B. Greenberg, “Abortion. A Challenge to Halakha”, S. 207: „A Jewish theology of abortion should include the statement that the Jewish people, in particular, need to expand the birthrate and replenish themselves after Auschwitz and after four wars in Israel even as we seriously attend to the question, generally, of world overpopulation.“ Siehe auch Barilan, “Abortion in Jewish Religious Law”, S. 5, „The two short responsa by the Maharit [Rabbi Joseph von Tranni, 16. Jahrhundert, Shut Maharit, ed. Lemberg 1861, part 1, resp. 79 und 99; C.S.] opened the door to extrapolating the permissibility of abortion of a mamzer or of a son of a Non-Jew”.

[50] Aptowitzer, “Observations on the Criminal Law of the Jews”, S. 99.

[51] Biale, Women and the Jewish Law, S. 225.

[52] Siehe Peskowitz, Spinning Fantasies, zu mKetubbot 5.5, S. 101: „The discourse of protection is almost always difficult to unravel, since declarations of care, kindness, and benevolence mask the fact that people had unequal relations to power.”

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Christiane Steuer,

born in 1981, studied Judaic Studies and Islamic Studies at the Freie Universität Berlin. She is working in the project “Feminist Commentary on the Babylonian Talmud,” supported by the German Research Foundation (DFG) and headed by Tal Ilan.

© Christiane Steuer, 2008, lectio@theol.unibe.ch, ISSN 1661-3317

 
 
 
 

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