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01-2001

Ausgabe 01/2001
Elzbieta Adamiak Gestohlene Bibel - Feministische Exegese im Kontext Mittel-Ost-Europa

Abstract:

Die Problematik einer feministischen Interpretation der Bibel aus der mittel- und osteuropäischen Sicht kann auf zwei Fragen zugespitzt werden: 1. nach dem Spezifischen des mittel- und osteuropäischen Kontextes; 2. nach dem Gemeinsamen mit den theologischen Entwürfen von Frauen aus diesen und anderen Teilen der Welt.

Gemeinsame Erfahrungen der kommunistischen Vergangenheit – trotz aller Unterschiede – waren atheistische Propaganda und Bekämpfung der Kirchen. Die Bibel galt für die damaligen Machthaber als subversiv. Zusammen mit der Tradition und der Identität wurde den Menschen auch die Bibel „gestohlen“. Die Verehrung der Bibel in der Kirchen bedeutete nicht die Möglichkeit ein theologisches und exegetisches Wissen zu erwerben. Das Gemeinsame bildet auch die von der kommunistischen Propaganda gepriesene und nur scheinbar realisierte Gleichberechtigung. Die Einstellungen der feministischen Exegese gegenüber sind unterschiedlich. Die Vorbehalte gehen nicht nur auf das feministische an ihr zurück. Es geht vielmehr um eine Begegnung mit einer kritischen Art theologischen Denkens. Vor der Theologinnen Mittel- und Osteuropa stehen die Fragen: Wie können wir die Bibel ideologiekritisch lesen, obwohl sie sich selbst als das beste Instrument der Kritik an der marxistischen und atheistischen Ideologie erwiesen hat? Wie können wir als Frauen uns die Bibel wieder aneignen, ohne den Verdacht zu erwecken, wir ideologisieren die Bibel? Wie können wir den biblischen Text als heilig anerkennen und zugleich kritisch betrachten?

So unerwartet wie die Einladung zum Symposion [1] auf dem Monte Verità ankam, so unerwartet wurde dieses Symposion zu einer wichtigen persönlichen Erfahrung. Die Vielfalt der Teilnehmerinnen und ihre Standpunkte relativierte die Polarisierungen zwischen dem Westen und Osten Europas, die ich aus anderen Zusammenkünften kannte. Auf einmal konnten oder mussten wir – Mittel- und Osteuropäerinnen – nicht nur westlichen Theologinnen gegenüber, sondern Theologinnen aus allen „Ecken“ der Welt unseren Standpunkt zu erklären versuchen. In diesem Zusammenhang repräsentierten wir die Teile Europas, die nie Kolonialmächte waren, sondern nicht selten selbst erobert wurden und unter Fremdherrschaft zu leiden hatten.

„Unseren Standpunkt“? Gibt es eine gemeinsame mittel- und osteuropäische Sicht der theologischen und hermeneutischen Probleme? Diese Frage beschäftigt mich seit langem, und ob ich auf sie eine Antwort geben kann, weiss ich nicht. Zu bemerken ist allerdings, dass mich die hermeneutischen und exegetischen Diskussionen als systematische Theologin interessieren. Zugegeben bin ich eine, die über „Frauen in der Bibel“ regelmässig schreibt, also ziemlich oft das Land der ExegetInnen betritt. Ich wollte also auf dem Monte Verità vor allem von Exegetinnen lernen. Und was ich gelernt habe, bezog sich auf meinen Kontext, mein Selbstverständnis, meinen Umgang mit der Bibel, den ich eher ausübe als direkt reflektiere.

Wenn ich meine Situation im mittel- und osteuropäischen Kontext betrachte, muss ich zugeben: Ich befand und befinde mich weiterhin in einer privilegierten Situation. Zum einen komme ich aus einem Land, in dem die Kirchen verhältnismässig frei wirken durften. Zum anderen fällt meine Lebenszeit mit grossen Veränderungen zusammen, die mir vieles ermöglichen, wovon ich früher nur träumen konnte. Ich konnte Theologie studieren, sogar im Westen, habe zu einem feministisch-theologischen Thema promoviert, arbeite als Theologin, doziere an der theologischen Fakultät einer Universität. Ein Grund zur Freude, auch wenn die ungleichen Proportionen zwischen der Mehrheit der Geistlichen und der Minderheit der LaientheologInnen im Lehrkörper meine Arbeit mühselig macht. Es kommt als weiteres Privileg hinzu, dass die wirtschaftliche Situation Polens immer besser wird.

Das Thema aller Hauptvorträge am Symposion war die Interpretation der Bibel. Das gemeinsame Thema führte aber inhaltlich zur Hervorhebung der Unterschiedlichkeit der kulturellen und sozialen Kontexte. Meine Erfahrung vom Monte Verità lässt sich von daher auf zwei grundsätzliche Fragen bringen; die Frage nach dem Spezifischen des mittel- und osteuropäischen Kontextes in der Theologie und die Frage nach dem Gemeinsamen mit den theologischen Entwürfen von Frauen aus unseren und aus anderen Teilen der Welt.

Mittel- und osteuropäische Theologie?

Mit den mittel- und osteuropäischen Ländern meinen wir meistens die Länder der Zweiten Welt, die vor allem die Erfahrung der kommunistischen Nachkriegszeit verbindet. Natürlich gibt es auch tiefergehende geschichtliche, religiöse und konfessionelle Wurzeln, die nicht nur Verbundenheit und Ähnlichkeiten zwischen diesen Ländern und Nationen, sondern auch Unterschiede, Spannungen und Konflikte in sich bergen. Mittel- und Osteuropa ist kein einheitliches Gebiet. „Die Differenzen der Länder Ost-Mitteleuropas in Religiosität, Kultur und Gesellschaft sind grösser als zwischen Ländern und Regionen Westeuropas. [...] Sozio-kulturell kann man Ost-Mitteleuropa gewiss nicht als eine Einheit ansehen“ [2] ().

Die Frage nach der Bedeutung der letzten historischen Periode für Glauben und Theologie bewegt viele – auf unterschiedlichen kirchlichen Ebenen. Im Jahre 1991 fand der erste (und soweit ich weiss, bis jetzt einzige) Kongress mittel- und osteuropäischer Theologen in Lublin (Polen) statt. Seit einigen Jahren organisieren die Theologinnen aus unserem Teil Europas im Rahmen der Europäischen Gesellschaft für theologische Forschung von Frauen (engl: European Society of Women in Theological Research ESWTR) regionale Konferenzen – 1998 in Prag (Tschechische Republik), 2000 in Lublin (Polen), die nächste ist für 2002 in Riga (Lettland) geplant. Es scheint ein grosser Bedarf zu bestehen, unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gemeinsam theologisch zu bedenken, doch ist die Frage nach dem Gemeinsamen durch die Verschiedenheit unserer Kontexte schwer zu beantworten.

Man kann allgemein z. B. von einer atheistischen Propaganda und Bekämpfung der christlichen Kirchen als der gemeinsamen Erfahrung der Vergangenheit sprechen. In den einzelnen Ländern vollzog sie sich aber auf sehr unterschiedliche Weise. Das Bekenntnis zum Christentum konnte z. B. zu einer langjährigen Gefängnisstrafe führen oder für Personen, deren Einfluss besonders gefürchtet wurde, sogar den Tod bedeuten. In anderen Situationen/ Ländern/ Perioden bedeutete es „nur“ das Ende der beruflichen Aufstiegchancen.

Die unterschiedlichen Massnahmen sind gut an zwei Faktoren abzulesen, dem Zugang zur Bibel und zur theologischen Ausbildung. War die Bibel war in einigen Ländern ein verbotenes Buch, so in anderen „nur“ ein faktisch fast unerreichbares. Durften in einigen Ländern nur diejenigen Menschen Theologie studieren, die konform gingen mit der kommunistischen Macht, so hatte in anderen Ländern diese Studienwahl zur Folge, dass Laien faktisch keine Anstellungsperspektiven geboten wurden. Zu den Ländern, in denen die Existenz der Kirchen bedroht war, gehörten neben der Sowjetunion die Tschechoslovakei und Ungarn. In beiden Ländern entstand eine katholische Untergrundkirche. Zu den Ländern, in denen die Massnahmen gegen die Kirchen milder waren, gehörten das ehemalige Jugoslavien und Polen. [3]

Die schwierige Situation der Kirche sowie ihre Isolation von der Weltkirche bekräftigte die tiefgehende Verbundenheit mit der Tradition. Konsequenzen davon sind bis heute spürbar. Die Anzeichen reichen von der Wiederbelebung des nationalen Bewusstseins bis zur Anknüpfung an die vor dem zweiten Weltkrieg gelehrte Theologie, was in der katholischen Kirche eine vorkonziliare Theologie bedeutet. Die mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil verbundenen Reformen müssen in einigen Ländern erst jetzt eingeführt werden, in anderen stellt sich die Frage, inwieweit ihr Geist das Leben der Kirche durchdringt. Die Wende und die Öffnung für die Aussenwelt beinhaltet zugleich einen Zusammenstoss mit der Moderne. „Diese «totale» Umgestaltung der Gesellschaften aktiviert Existenzängste und aus der nationalen Vergangenheit hervorgehende (teils emotional-fundamentalistische) Lösungen. Dabei kann eine Bruchlinie zwischen dem Osten und dem Westen beobachtet werden. Das westliche Europa ist pragmatisch, professionell und zukunftsorientiert – also rationalistisch. Demgegenüber dominiert bei den OsteuropäerInnen die Geschichte, das Pathos, die Wut und das Gefühl der Ungerechtigkeit“. [4]

Versuche, inhaltlich eine mittel- und osteuropäische Theologie zu entwerfen, bestehen aus verschiedenen Varianten einer Leidenstheologie – Theologie nach Gulag [5] oder Theologie nach Kolyma. [6] Kolyma heisst ein Fluss, unmittelbar nördlich des Polarkreises, wo eines der schrecklichsten sowjetischen Zwangsarbeitslager gebaut wurde. Man kann ihn also mit Auschwitz als einem konkreten Ort vergleichen. Gulag bedeutet das ganze Gewaltsystem, das von Anfang 1920 bis Mitte 1950 funktionierte. Wellenweise wurden da, abhängig von der Situation, sich ändernde “Klassenfeinde” verhaftet: zuerst die Bauern, die sich gegen die Kollektivisierungsreformen wehrten, dann die Bevölkerung, die 1939 aus polnischen und baltischen Gebieten vertrieben wurde, die potentiell unloyalen Bevölkerungsgruppen (z. B. die Wolgadeutschen zur Zeit des zweiten Weltkrieges), die wegen einer Sabotage Verdächtigten, Gläubige, Menschen, die Kontakte mit ihren ausländlischen Verwandten und Bekannten pflegten, unabhängig, d. h. nicht auf der aktuellen Parteilinie Denkende und auch Kriminelle. Die meisten der Gefangenen waren aber unschuldig. Aufgrund der harten klimatischen Bedingungen, sehr langen Arbeitszeiten und unmenschlichen Lebensbedingungen starb jedes Jahr ca. ein Zehntel der Gefangenen. Man schätzt, dass zwischen 1920-1956 zwischen 15-30 Millionen Menschen im Gulag ums Leben kamen. Die genaue Zahl wird nie bekannt werden. Die sowjetischen Arbeitslager waren die schlimmsten, in anderen mittel- und osteuropäischen Ländern gab es sie aber auch, insgesamt über vierhundert. [7]

Theologie nach Gulag oder nach Kolyma will, dass aus dem vergangenen und heute noch zu bewältigenden Leiden besondere Früchte des Verstehens reifen. Warum hat Gott solche Verfolgungen zugelassen? Warum sind einige Kirchen fast zum Tode verurteilt worden? Warum starben sie nicht und werden jetzt wieder mit Leben erfüllt? Warum wurden einige Christen zu MärtyrerInnen, warum waren andere dagegen zu Kompromissen mit den Herrschern bereit? Was ist der Sinn des erlebten Leidens? Wie sollen diese Leidenserfahrungen in der neuen Situation, in der Öffnung nach Westeuropa, das ganz andere Wege gegangen ist, identitätsstiftend und zukunftsweisend gemacht werden? [8] Diese Fragen verlieren ihre Aktualität nicht. Die Antworten erwachsen aber öfter aus der kirchlichen Praxis als aus theologischen Publikationen. Diese Leidenstheologie wird zugleich zu einer grundsätzlichen Frage nach der lebensspendenden Kraft der Hoffnung und zur kritischen Frage an andere theologische Entwürfe, auch feministische, ob sie Hoffnung mit sich bringen.

Rasch stattfindene Veränderungen bringen Freiheit und Hoffnung, aber auch neues Leid mit sich, wie Armut, Arbeitslosigkeit, krasse soziale Unterschiede in früher nicht bekanntem Masse, wachsende Gewalt. Anstatt einer Entwicklung der eigenen theologischen Perspektive wird das woanders (vor allem im Westen) erarbeitete theologische Gut in unsere Sprachen übersetzt. In der polnischen katholischen „Landschaft“ sind es vor allem die grossen Theologen der Konzilszeiten, weniger dagegen die aktuell tätigen TheologInnen. „Die neuen Schläuche sind noch oft mit altem Wein gefüllt. (...) Heilsgeschichtliche Dogmatik, biblische Hermeneutik, kritische christliche Soziallehre, Praktische Theologie und moderne Religionspädagogik werden noch ängstlich betrachtet“, meint ein ungarischer Theologe. [9]

Was bedeutet diese grob gezeichnete Vergangenheit für die Frage des Umgangs mit der Bibel? Zuerst, dass die Bibel für viele ein unbekanntes Buch war und ist, zudem ein Buch, das verboten war, also für die damaligen Machthaber als subversiv, gefährlich galt. Ein Buch, das ein Instrument der Kritik an der Ideologie war. Für einige hat es die geistige Macht der Kirche symbolisiert, wie ein Stützpunkt, der sicher in all unsicheren Zeiten bleibt. Ein heiliges und gesellschaftlich relevantes Buch, das Buch, das die Tradition und die Identität von vielen ausmachte. Zusammen mit der Tradition und der eigenen Identität wurde den Menschen von den kommunistischen Machthabern auch die Bibel gestohlen. Als wir mittel- und osteuropäischen Theologinnen 1998 nach Prag kamen, um über unsere Umbruchsituation und damit verbundene Herausforderungen nachzudenken, brachte eine von uns die von mir im Titel zitierte Metapher in die Diskussion: die gestohlene Bibel. Damals wurde sie vor allem auf unsere gemeinsame Erfahrung des beschränkten Zugangs zur Bibel unter kommunistischer Macht bezogen. Dieser Ausdruck kann aber viel weiter verstanden werden, auch im feministischen Sinne. “Gestohlen” heisst, dass mir etwas gewaltsam weggenommen wurde, etwas, was mein ist oder mich ausmacht, was mir jetzt fehlt, wonach ich mich sehne. Emotional ist die Metapher mit Trauer und Bitterkeit gefüllt, aber auch mit Freude an der Bibel, der Lust wieder an sie zu kommen.

Die Verehrung der Bibel auf der symbolischen Ebene ging selten Hand in Hand mit dem theologischen und exegetischen Wissen. Die ideologiekritische Lektüre der biblischen Texte konnte der kommunistischen Propaganda dienen oder von ihr ausgenutzt werden. Das hat dann zur Apologie der Bibel kirchlicherseits geführt. Aus diesen Gründen wurde die historisch-kritische Methode sehr vorsichtig rezipiert. Sie war unter SpezialistInnen bekannt und wurde den StudentInnen eher in Grundrissen vorgestellt als in Veranstaltungen angewandt. Solche Versuche werden auch heute von einigen als für den Glauben gefährlich angesehen. „Theologie wird als eine Wissenschaft mit sicheren Antworten und nicht als Wissenschaft der offenen Fragen erwünscht und gefördert“. [10] Trotzdem lebt auch diese theologische Tradition weiter, die Theologie als eine Kunst der Fragestellung versteht. [11] Zu den wichtigen Fragen kommen nun jene feministischer Art.

Das Gemeinsame der Theologie von Frauen weltweit

Als das Gemeinsame der mittel- und osteuropäischen Nachkriegsgeschichte konnten auch die Veränderungen der Situation der Frauen genannt werden. Die von der kommunistischen Propaganda gepriesene und vielerorts nur anscheinend realisierte Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern muss neu interpretiert werden. Damaligen Machthabern ging es nicht um Frauen, sondern abhängig von den Änderungen auf dem Arbeitsmarkt wurde die auf Frauen bezogene Ideologie angepasst. Die Untersuchungen zeigen, dass in den Perioden, in denen es dank verschiedener Protest- oder Erneuerungsbewegungen um echte Macht ging, die Anzahl der Frauen in der Machtpositionen rasch zurückging. [12] Dieses Muster können wir allgemein nach der Wende ‘89 beobachten. Die Transformationsprozesse verschlechtern nicht selten die Situation der Frauen (z. B. die finanzielle Benachteiligung der Berufe, die als „weiblich“ gelten; die grössere Arbeitslosigkeit unter Frauen als unter Männern; die Benachteilugung der Frauen durch das neu entworfene Versicherungssystem– das alles auf dem polnischen Hintergrund).

Heutige Feministinnen in unserem Teil Europas haben also diese ideologischen Frauenbewegungsbilder zu bearbeiten. Eine der Schwierigkeiten dabei ist die Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen im Westen und bei uns. Vieles, was da „stufenweise“ entworfen wurde, wird bei uns gleichzeitig von verschiedenen Frauen rezipiert. Feminismus selbst wird unterschiedlich, manchmal widersprüchlich verstanden – je nach Tradition oder Perioden der Frauenbewegung, auf die sich frau beruft. Einige Frauen fühlen sich eher vom postfeministischen Ansatz angesprochen. Parallell zum wachsenden feministischen Interesse wird die unterbrochene Tradition der kirchlichen oder ökumenischen Frauenorganisationen wiederbelebt, die während der kommunistischen Zeit verboten waren. Nur spurenweise kann man aber die Netzwerke kritischer Christinnen finden. Sie bleiben sehr oft Alleingängerinnen.

Schon unter ein paar mittel- und osteuropäischen Theologinnen, die auf dem Monte Verità unseren Weltteil repräsentiert haben, waren wir nicht einig, welche Bedeutung die feministische Fragestellung für unsere Theologie hat. Während meine ungarischen Schwestern, die meistens als Pastorinnen tätig sind, der feministischen Theologie gegenüber eher skeptisch waren, ist für mich die feministische Dimension der Theologie von grosser Bedeutung. Anderseits ist diese Art von Gesprächen typisch für unseren Kontext. Die Vorbehalte der feministischen Theologie gegenüber gehen nicht nur auf das feministische an ihr zurück. Es geht vielmehr um eine Begegnung mit einer anderen – kritischen - Art theologischen Denkens.

Bei unserem Thema lautet die wichtigste Frage: Können, dürfen wir die Bibel ideologiekritisch lesen, wo sie sich doch selbst als das beste Instrument der Kritik der marxistischen und atheistischen Ideologie erwiesen hat? Wie können wir, mittel- und osteuropäische Frauen, uns die Bibel wieder aneignen, ohne in unseren Kirchen den Verdacht zu erwecken, wir ideologisieren die Bibel? Ist unsere Hauptaufgabe nicht, die verlorenen Jahre nachzuholen, indem wie die Bibel den Frauen näherbringen? Hat also gewissermassen die Mission Vorrang vor der Kritik? [13] Die Alternative scheint zu sein: Wenn wir das sichere „Land“ der Heiligen Schrift verlassen und den biblischen Text nach ausserbiblischen Kriterien interpretieren, geraten wir nicht in grosse Unsicherheit, weil jedes Kriterium durch ein anderes ersetzt werden kann? Die hermeneutische Vielfalt auf dem Monte Verità zeigt deutlich, dass die Frauenbefreiung kein eindeutiges Kriterium ausmacht, sondern eines, dass je nach Kontext anders verstanden wird. Helfen wir also den Frauen mit der feministischen Kritik an der Bibel oder nehmen wir ihnen die beste Stütze, die sie hatten? Was ist hier unsere Verantwortung als Theologinnen? Wie können wir einen Weg „dazwischen“ finden, der den biblischen Text als heilig anerkennt und zugleich kritisch betrachtet? Ist die wörtliche, unkritische Wiedergabe der Bibel nicht mit der Fortsetzung des Prozesses vergleichbar, in dem der heilige Text den Frauen, allen Frauen in einem anderen Sinne gestohlen wurde?

Am Schluss des Symposions auf dem Monte Verità wurden wir zu einem (nicht nur) symbolisch reich gedeckten Tisch eingeladen, wo die Früchte des Verstehensprozesses der ganzen Woche gesammelt wurden. Sie sollten uns, den Teilnehmerinnen, mit auf den Weg gegeben werden. Angesprochen von diesem Bild können wir fragen: Womit nährt uns feministische Exegese? Vermittelt sie uns lebens- und kraftspendende Hoffnung? Welche “Diät” verschreibt sie uns? Nimmt sie sich genug Zeit, um kraftvolle Speisen verzubereiten oder reisst sie viel weg mit ihrer Kritik, was für einige nahrhaft ist und weiterhin sein könnte?

Wie können wir in Mittel und Osteuropa diese Wahrnehmung des (zumindest) doppelten „Diebstahls“ der Bibel theologisch fruchtbar machen, damit wir nicht in die “Kritikfalle” fallen? Sollen wir dabei unseren theologischen Schwestern aus der Ersten und der Dritten Welt inhaltlich folgen, oder einen eigenen Weg suchen? Liegt auch hier nicht die Antwort „dazwischen“? Warum sollen wir uns nicht von der Arbeit anderer Frauen inspirieren lassen? Und das bedeutet Kennenlernen der bestehenden feministisch-theologischen Entwürfe in der Ersten und der Dritten Welt. Es gibt zwei Ebenen des feministisch-theologischen Denkens. Die eine ist so grundsätzlich, dass sie auch in unserem Land brauchbar sein kann (z. B. Probleme wie die Abwesenheit von Frauen in den entscheidungsfindenden Gremien der Kirche, die Einseitigkeit der bestehenden Theologie, die Exklusivität der Sprache). Diese allgemeinen Probleme werden aber mit lokalen Traditionen verknüpft, die zur Folge haben, dass auf der zweiten Ebene auch das feministisch-theologische Denken anders formuliert werden muss. Erarbeiten, was das konkret bedeutet, ist unsere Zukunftsaufgabe.

Meinen Aufsatz will ich mit einem weiteren Bild schliessen, dem Bild der Eröffnungsmeditation der Lubliner Konferenz 2000. Die Frau öffnet die Heilige Schrift, verbeugt sich vor ihr. Sie schliesst das Buch, wickelt es, hebt es hoch, umarmt es, tanzt mit ihm in den Händen, legt es ins Kinderbett und wacht über es. Die Bibel, das Wort bringt das Leben unter uns. Sie ist aber in unseren Händen. Sie braucht unsere Sorge, um lebendig zu bleiben. Indem wir die Bibel interpretieren, deuten wir uns selbst, unser Leben. Wir suchen unser Leben in der Bibel, wollen das Leben, seine Würde beschützen, Sorge um es tragen. Ich wünschte mir, dass feministische Theologie diese aus der Bibel kommende lebenspendende Kraft und Lebenskunst sichtbarer macht.

 

Literatur

Elzbieta Adamiak, Feministische Theologie in Polen? Ein beinahe unmögliches Thema, in: Frauenkirchen. Vernetzung und Reflexion im europäischen Kontext. Jahrbuch der Europäischen Gesellschaft für theologische Forschung von Frauen 3(1995) 106-112.

Dies., Zerrissen zwischen Osten und Westen, Schlangenbrut 15(1997) 56, 5-7.

Dies., Kirche und Feminismus in Polen, in: There were also women looking on from afar, ed. by N. J. Njorge i I. Askola, Genf 1998, 57-64.

Dies., Vrouwen en theologie in tijden van overgang, Fier 3(2000) 3, 7-9.

Elzbieta Adamiak, Józef Majewski, Teologia miedzy Odra a Bugiem. Kilka pytan o stan teologii polskiej w czasie przelomu [Theologie zwischen Oder und Bug. Einige Fragen zum Stand der polnischen Theologie in der Wendezeit], Wiez 42(1999) 10, 28-46.

Waldemar Chrostowski, Filozofia po Kolymie [Die Philosophie nach Kolyma], Spotkania 4.12.1991.

Malgorzata Fuszara, Udzial kobiet we wladzy [Die Partizipation der Frauen an der Macht], in: Kobiety w Polsce w latach 90. Raport Centrum Praw Kobiet [Frauen in Polen in 90. Der Bericht des Zentrums für Rechte der Frauen], Warszawa 2000, 21-42.

Tomás Halik, “Du wirst das Angesicht der Erde erneuern”: Kirche und Gesellschaft an der Schwelle zur Freiheit, Leipzig 1993.

Ders., Wyzwoleni, jeszcze nie wolni. Czeski katolicyzm przed i po 1989 roku [Befreit, noch nicht frei. Der tschechische Katholizismus vor und nach 1989], Poznan 1997.

Adrás Máté-Tóth, Eine Theologie der Zweiten Welt? Beobachtungen und Herausforderungen, Conc 36(2000) 3, 278-286. [Die ganze Nummer zum Thema “Religion im Kommunismus”, wobei leider keine einzige Autorin aus ihrer Sicht schreibt.]

Zbigniew Nosowski, Theology after Gulag, The Tablet, 30.05.1992.

Themenheft „Kirchen in Osteuropa“, Junge Kirche 62(2001) 1.

Miklós Tomka, Die Marginalisierung der Christen in Ost-Mitteleuropa, Conc 36(2000) 3, 311-322.

Miklós Tomka, Paul M. Zulehner, Religion in den Reformländern Ost(Mittel)Europas, Wien 1999.

 

[1] „Feministische Exegese und Hermeneutik der Befreiung”  2.-7. Juli 2000, Monte Verità, Ascona, Schweiz. 43 Exegetinnen aus 20 Staaten aller Kontinente. Der Aufsatz ist eine Vorveröffentlichung eines Beitrags aus dem Konferenzbericht, der voraussichtlich 2002 bei Sheffield Academic Press in Englisch erscheinen wird. Für eine ausführlichere Beschreibung  vgl. Silvia Schroer, Feministische Exegese und Hermeneutik der Befreiung, Schlangenbrut 72(Februar 2001) 28-31.

[2] Tomka 2000: 311; mit P. M. Zulehner leitete er ein Projekt „Aufbruch/ New Departures“ im Pastoralen Forum in Wien, deren Ergebnisse in der Reihe „Gott nach dem Kommunismus“ erscheinen; vgl. Tomka, Zulehner, 1999

[3] genauere Informationen siehe Tomka, Zulehner 1999; Conc 36 (2000) 3 zum Thema “Religion im Kommunismus”.

[4] Máté-Tóth 2000: 279

[5] Halik 1993, 1997

[6] Chrostowski 1991; vgl. Nosowski 1992

[7] Siehe die Webseiten der Open Society Archives mit der Ausstellung über Gulag: www.osa.ceu.hu/gulag.

[8] Nosowski 1992

[9] Máté-Tóth 2000: 285

[10] Máté-Tóth 2000: 285

[11] Adamiak, Majewski 1999: 35-43; Adamiak 2000

[12] Fuszara 2000: 21-30

[13] Die scharfsinnigen Formulierungen dieser Problemlage verdanke ich der lebendigen Diskussionen mit Heike Walz, einer westeuropäischen Teilnehmerin an dem Symposion

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Elzbieta Adamiak,

Studium der katholischen Theologie in Lublin (PL), Regensburg (D), Nijmegen (NL); 1994 Promotion über das Marienbild in der Theologie von Catharina Halkes; danach Tätigkeit im Verlagswesen; seit 1998 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für die Fundamentaltheologie und Dogmatik an der theologischen Fakultät der Adam Mickiewicz Universität in Poznan (PL); seit 1999 Vorstandsmitgleid der Europäischen Gesellschaft für theologische Forschung von Frauen.

© Elzbieta Adamiak 2001, lectio@theol.unibe.ch, ISSN 1661-3317

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